Auf Uwe Johnsons Stundenplan: Schiller, Brecht und die Schuld der Deutschen

Abschied vom "alten" Johnson-Jahrbuch

Von Rainer Paasch-BeeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Paasch-Beeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit neun längeren und weiteren kurzen Beiträgen macht dieser letzte Band unter der Regie von Holger Helbig und Ulrich Fries (seit Bd. 9 mit Unterstützung von Irmgard Müller) noch einmal deutlich, warum das Jahrbuch das Medium der Forschung zum Werk und zur Biographie Uwe Johnsons gewesen ist. Ganz am Ende findet sich das "Gesamtinhaltsverzeichnis der Johnson-Jahrbücher Band 1 - Band 10". Es umfasst elf Seiten und erinnert so nachdrücklich daran, was die Herausgeber geleistet haben und welchen enormen Auftrieb sie der Johnson-Forschung in den zurückliegenden zehn Jahren gegeben, ja zum Teil erst ermöglicht haben.

Den Einstieg gibt Greg Bond mit der Überarbeitung seines Iserlohner Vortrags vom November 2001. "Bilder von Uwe Johnson in den neunziger Jahren", lautet der Untertitel seines Beitrages, der ausdrücklich keine wissenschaftliche Rezeption sein will und sich dennoch sehr nachdenklich den Fragen widmet, denen sich die Johnson-Forschung heute stellen muss. Sehr persönlich und zugleich sehr deutlich weist er alle Versuche zurück, Johnsons Werk als Identifikationsangebot zu vereinnahmen. Statt dessen betont er die Brüche, die sein Werk auszeichnen und von der Forschung bis heute nicht hinreichend bearbeitet sind. Dazu zählt er die Tatsache, dass Johnson, der 1959 die DDR verlassen hat, zeitlebens nicht in der Gesellschaft der Bundesrepublik angekommen ist, was sich nicht nur daran erweist, dass er hier nie einen Wohnsitz hatte. Das andere Thema ist die "deutsche Schuld". "Johnsons Beschäftigung mit der deutschen Schuld gegenüber jüdischen und anderen Opfern blieb unterbelichtet", lautet hier seine These. Man kann ihm nur beipflichten: Trotz vielfacher Bemühungen bleibt der Johnson-Forschung hier noch viel Arbeit.

Auch Bond kann am Schluss der Versuchung nicht widerstehen und verteilt den üblichen Seitenhieb - "wie ein Werbefilm für Waschmittel" - an den Fernsehfilm "Jahrestage".

Wenn man weiß, dass auch Holger Helbig von den Herausgebern zu den schärfsten Kritikern der Verfilmung der "Jahrestage" durch Margarethe von Trotta gehört, merkt man auf und beachtet den Beitrag von Silke Jakobs und Lothar van Laak um so mehr. Scheint es doch der erste gründliche Versuch zu sein, sich - jenseits aller grundsätzlicher Kritik an einer Verfilmung der "Jahrestage" überhaupt - mit dem Film in Hinblick auf seine "medialen Eigentümlichkeiten" zu befassen und ihm damit auch ein Stück weit gerecht(er) zu werden. Unter dem Stichwort "ästhetisch-religiöse Präsentativität" gelingt es Jakobs/van Laak nachzuweisen, in welcher Weise die Filmleute die "thematische und auch strukturelle Bedeutung des religiösen Diskurses" im Roman auf den Film übertragen und noch ausgeweitet haben. Ihre genaue und scharfsinnige Analyse der Abschiedsszene zwischen Jakob Abs und seiner Mutter und der jungen Gesine und ihren deutlich herausgearbeiteten Bezügen zu dem "ritualisierten Erinnerungsmahl par excellence, dem Abschieds-, Liebes- und Erinnerungsmahl Jesu Christi" ist bestechend und eröffnet den Blick auf eine weitergehende Dimension und somit auch Interpretation durch den Film.

Eine zweite hochdifferenzierte und mit Gewinn zu lesende Analyse verdanken wir Nicola Westphal. Sie hat sich eine Deutschstunde aus Johnsons Erstling "Ingrid Babendererde" vorgenommen und die schon in vorangegangenen Forschungsbeiträgen aufgezeigten intertextuellen Bezüge - Schillers "Bürgschaft" und Brechts Sonett "Über Schillers Gedicht ,Die Bürgschaft'" -, die Johnson (s)eine Stellungnahme zur kulturpolitischen Debatte in der DDR der 50er Jahre erleichtern, um einen zweiten Bezugsrahmen erweitert. Denn indem sie diese Bezüge und das von ihnen ausgelöste "Gespräch" an die drei Hauptfiguren anbindet, zeigt sie auf, wie der Leser "Zeuge eines mit ästhetischen Mitteln ausgetragenen politischen und moralischen Streits zwischen den Protagonisten wird". Wenn sie in einem Fazit zu dem Ergebnis kommt, dass diese Schulstunde - im 22. und 23. Kapitel des Romans - "an Dichte und an Virtuosität, was die komplexe Einbindung des literarischen Bezugstextes betrifft", kaum zu überbieten sei, so möchte man anmerken, dass Westphals feinsinnige Interpretation dieser Schulstunde ebenbürtig ist.

Es wird niemanden überraschen, wenn Uwe Neumann unter dem Titel "Deckname Marcel" das Verhältnis zwischen Johnson und Marcel Reich-Ranicki als "kein harmonisches, sondern ein höchst konfliktreiches" kennzeichnet. Interessanter ist da schon die weitergehende Feststellung, dass Johnson aber im Gegensatz etwa zu Walser und Grass niemals öffentlich gegen Reich-Ranicki Stellung bezogen hat. Und geradezu spannend wird es, wenn Neumann diese Zurückhaltung Johnsons mit solchen Anwürfen kontrastiert, denen sich Reich-Ranicki seit seinen ersten Auftritten als Literaturkritiker in Deutschland ausgesetzt sah. Neumanns gewohnt materialreicher Beitrag weist so weit über das Verhältnis Johnson - Reich-Ranicki hinaus und lässt sich auch lesen als ein substantieller Nachtrag zur Debatte um Walsers "Tod eines Kritikers". Vor dem Hintergrund des von Neumann aufbereiteten Materials, das eine breite Spur antisemitischer Anwürfe gegen Reich-Ranicki von Schriftsteller- und Journalistenseite bis heute aufweist, liest sich auch Walsers Roman-Pamphlet noch einmal anders. Denn Walsers Entgleisungen und seine bewusst eingesetzten antisemitischen Klischees stehen am vorläufigen Ende einer langen Tradition. Ein Jahrbuch, das den Namen Uwe Johnsons trägt, ist ein guter Platz für solch eine notwendige Klarstellung.

Die Inszenierung und die Wahrnehmung des Raumes in Johnsons Frühwerk stehen im Mittelpunkt der Ausführungen von Katja Leuchtenberger, die gerade mit einer beispielhaften Dissertation über "Erzählstrukturen und Strategien der Leserlenkung" bei Johnson auf sich aufmerksam gemacht hat. Michael Hofmann, der das schwere Erbe als Herausgeber des "neuen" Johnson-Jahrbuches ab dem elften Band angetreten hat, stellt sich mit einem Essay vor, in dem er Johnsons Beitrag in der Diskussion um ein "kollektives Gedächtnis der Deutschen" und damit auch in der Frage nach dem Umgang mit der Schuld in der nachfolgenden Generation zum Thema macht. Genau hier schließt Ulrich Krellner mit seinen Überlegungen über "Zwei Modelle im Vergangenheitsbezug der Jahrestage an". Indem er die Forschungsliteratur einer genauen Prüfung unterzieht, die sich dem eingangs von Greg Bond eingeforderten Thema von der "Schuld der Deutschen" widmet, setzt er zugleich einen anderen Akzent. Krellner stellt dabei das von ihm so genannte "Erinnerungsmodell Gesine" dem "Erinnerungsmodell Marie" gegenüber und verortet so Johnsons Roman und seinen Beitrag für die deutsche Erinnerungskultur konsequent in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Ob Krellner mit dieser Zuordnung und den sich daraus ergebenden Folgen für die Analyse der "Jahrestage" Recht behalten kann, müssen weitere Untersuchungen erst noch zeigen.

Bleibt nachzutragen, dass sich unter den Autoren der Besprechungen eine lange vermisste Stimme zurückgemeldet hat. Rudi Gerstenberg hat sich nach großer Pause in gewohnt akzentuierter Weise eine der Neuerscheinungen der letzten Saison vorgenommen und dabei das vielleicht nur ihm mögliche Kunststück fertig gebracht, seine Besprechung mit 22 Anmerkungen auszustatten. Weiter so!

Titelbild

Holger Helbig / Ulrich Fries / Irmgard Müller (Hg.): Johnson-Jahrbuch. Band 10/2003.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003.
238 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-10: 352520910X

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