Ecce Criticus - ein Blick von unten
J. Raddatz autobiographische Erinnerungen "Unruhestifter"
Von Sebastian Domsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAngesichts des Mannes, um dessen Erinnerungen es im Folgenden gehen soll, ist es vielleicht nicht nur erlaubt, sondern sogar erhellend, einmal mit einer eigenen Schreibregel zu brechen, und mit einem persönlichen Ereignis anzufangen. Der Autor dieser Zeilen hatte sein Rezensionsexemplar gerade frisch erhalten, als Raddatz zur Buchvorstellung ins Literaturhaus nach München kam. Dort wurde er von seinem langjährigen Freund Michael Krüger vorgestellt und las dann ein paar Kapitel vor im sichtlichen Bedauern, dass er im vorgegebenen Rahmen wohl nicht das ganze Buch schaffen könnte. Anschließend signierte er.
Auch ich stellte mich an und erntete, als ich an die Reihe kam, den verwunderten Ausruf: "Na, mal ein ganz junger Leser!", gefolgt von der Beruhigung: "Keine Angst, das Buch ist gar nicht langweilig." Derart aufgemuntert machte ich mich sogleich ans Kritikerwerk, eingedenk der Tatsache, dass zwischen mir und IHM mehr als nur eine Generation liegt.
Fritz J. Raddatz gehört sicher zu den Kritikern, die nicht erst auf die Rechtfertigung durch eine Autobiographie warten mussten, um "Ich" zu sagen. Seine Persönlichkeit und die daran orientierten Subjektivitäten gehörten von Anfang an zum Prozess seines literarischen Wertens. Seine Urteile sind nicht notwendigerweise das Ergebnis einer sorgfältig abwägenden, differenzierenden und nachvollziehbaren Argumentation (obwohl das natürlich nicht ausgeschlossen ist), sondern Geschmacksurteile eines Kunstrichters mit kunstrichterlicher Autorität von für uns erstaunlicher Selbstverständlichkeit. Die Leistung, die aus einer Reihe von literaturbesessenen Kritikern Literaturpäpste machte, war ihre Eindeutigkeit, für die sie ganz mit der eigenen Persönlichkeit einstanden. Wir, die Generation der Nachgeborenen, die auf den Friedensuniversitäten durch sämtliche Diskursschulen gegangen sind, gar jene, die den Poststrukturalismus mit seiner Dekonstruktion sämtlicher Gewissheiten mit der Muttermilch aufgesogen haben, können da kaum mithalten.
Unser Leben wird nie so einen furiosen Auftritt vorzuweisen haben, wie der von FJR. Wenn Raddatz schreibt, "Meine Kindheit war schauerlich", dann meint er damit kein verödetes Dahindämmern in der Provinz oder den harten Straßenalltag in der Großstadt, sondern den Stoff für einen großen Roman, einen von der saftigeren Sorte. Bombenkrieg und Schwarzmarkthandel geben dabei nur die Kulisse für das schwülstige Familiendrama, wenn der Vater den zwölfjährigen Sohn dazu zwingt, mit der Stiefmutter zu schlafen. Sein ganzes späteres Streben wird er daran setzen, sich von dieser "gut gebohnerten, aber schlecht durchlüfteten Bürgerwelt" wegzuschreiben. Wohl dem, der ein solches Feindbild hat, um daran groß zu werden.
Zwietracht und Streit gehen bald über vom familiären auf das berufliche Feld, als Raddatz 1953 seine literarische Karriere mit einer Tätigkeit beim wichtigsten internationalen Verlag der jungen DDR beginnt. Überhaupt hat man bei der Lektüre von "Unruhestifter" bisweilen das Gefühl, Reibungswärme sei die einzige Wärme, die Raddatz in seinem Leben erfahren hat. Da der Sozialismus allerdings seinen Bürgern für Reibung nur einen sehr kleinen Spielraum ließ, wurde ihm dieser Teil des Landes schnell zu eng, und er siedelte in die Bundesrepublik über.
Raddatz stand immer an Schalthebelpositionen im literarischen Betrieb, wobei er scheinbar mühelos von der einen in die andere wechselte. Man kann als Teil der Generation Defizitverwalter im Zeitalter der konzerngleichgeschalteten Verlage, "outgesourcten" Lektorate und halbierten Feuilletons nur staunen darüber, wie der ehemalige stellvertretende Cheflektor des Verlags Volk und Welt in Ostberlin nach seinem Gang in den Westen mit verlockenden Angeboten schon fast gegen seinen Willen überhäuft wurde. Prompt beging er eine Fehlentscheidung und wurde Cheflektor beim Münchner Kindler Verlag, was dann auch gerade mal zwei Jahre gut ging. Schon 1960 wechselte er zu Rowohlt und wurde dort die rechte Hand des Verlegers. Ein knappes, aber fruchtbares Jahrzehnt lang half er dabei, eine ganze Reihe von Autoren zu etablieren, die mittlerweile längst Teil der Literaturgeschichten sind, darunter Hubert Fichte, Rolf Hochhuth, Walter Kempowski oder Elfriede Jelinek.
Doch mit Heinrich-Maria Ledig-Rowohlt hatte Raddatz ein Gegenüber, das zu viel eigene Persönlichkeit hatte, um auf Dauer mit derseinen zu harmonieren. In seinen Erinnerungen nennt Raddatz ihn "dünnhäutige[n] Elefant, aggressive Mimose, bissige Venus", und sein Porträt des Verlegers schwankt in diesem Stil zwischen Liebe und Beleidigung. Überhaupt sind in Raddatz' ganzem Buch die Grenzen zwischen Erinnerung und Abrechnung fließend. Die von "Eins" bis "Dreizehn" betitelten Kapitel sind der eigentliche, weitgehend chronologisch verlaufende Teil der Autobiographie, die jedoch von zwölf Zeitrafferprortraits durchbrochen werden. In diesen Einschüben, die etwa die Hälfte der Seiten einnehmen, und in denen sich ein Großteil der Stellen befinden, die in der Rezeption des Buches solchen Wirbel verursacht haben, skizziert Raddatz Menschen, die in seinem Leben von besonderer Bedeutung gewesen sind. Dazu gehören, neben seiner Schwester, vor allem bedeutende Persönlichkeiten des bundesrepublikanischen Kulturlebens wie Rudolf Augstein, Günter Grass oder Hans Mayer.
Sonderlich freuen dürfte sich keiner der Genannten über die Aufnahme, denn auch wenn Raddatz seine Indiskretionen, Sticheleien und Boshaftigkeiten mal in einen scherzenden Plauderton und mal in ein ziemlich dickes Innerlichkeitspathos verpackt, ändert das kaum etwas an ihrer Wirkung. Wenn auch einige deutlich schlechter wegkommen als andere, entkommt doch niemand ungeschoren, und das liegt daran, dass die ganze Welt schlecht ist, und besonders schlecht ist sie zu Fritz J. Raddatz.
Der Schreibgestus von Raddatz fährt eine doppelte Strategie, die den Leser zwischen Mitgefühl und Abwehr in der Schwebe und damit stets am Ball hält, denn er ist durchgehend der des zu kurz gekommenen Angebers. Da ihm, nach eigener Aussage, stets und von allen Seiten die wirklich wichtigen Dinge wie menschliche Zuneigung und vor allem Dankbarkeit verweigert wurden, darf er unverhohlen mit seinen beruflichen Erfolgen prahlen, seinen berühmten Bekanntschaften und seinen großen Leistungen. Während für die Kinder der Leistungsgesellschaft sich die Identität zunehmend durch solche Erfolge definiert, kann ihnen Raddatz gerade seine Innerlichkeit entgegenhalten, sein Herz, das so voll ist von Liebe und damit so zugänglich für Enttäuschung. Raddatz ist und war ein Profi des Literaturbetriebs, jedoch nicht im heutigen Sinn von Professionalisierung, der stets eine Distanz voraussetzt, sondern in dem Sinn, dass seine Persönlichkeit und seine Vorstellung von Literatur nicht zu unterscheiden waren. Ob im Verlag, an der Universität oder bei der Zeitung ist Raddatz kompromisslos auch emotional mit seiner Tätigkeit verbunden.
Das macht ihn zu einem leidenschaftlichen Liebhaber der Literatur mit großem Begeisterungspotential für seine Sache, es macht ihn nicht unbedingt selbst zu einem guten Literaten. Mit einem Rückblick auf Marcel Reich-Ranicki (der einzigen, und damit überdeutlichen, Leerstelle in Raddatz' Buch) und auf "Unruhestifter", stellt sich doch die Frage, wie es eigentlich kommt, dass die Lebenserinnerungen von Männern, die sich über Jahrzehnte den Ruf der bedeutendsten Literaturkritiker dieses Landes erworben haben, über weite Strecken in Gewand und Stil von Kolportageromanen daherkommen. Das sind durchaus echte Schmöker und "page-turner", doch es bleibt ein etwas schaler Nachgeschmack und das schlechte literarische Gewissen stellt sich nur deshalb nicht ein, weil es ja um so viel imminent Intellektuelles ging.
Natürlich muss ein Kritiker nicht selbst schreiben können, doch "Unruhestifter" erscheint immer wieder wie ein Buch aus einer vergangenen literarischen Epoche. Hätte Raddatz noch immer die beherrschende Stellung im Literatubetrieb inne wie in den vergangenen Jahrzehnten, dann könnte einem darob etwas bange werden um den Stand der neuesten Literatur angesichts solcher, wenn nicht gerade rückwärts gewandten, so doch zumindest eher beharrenden ästhetischen Tendenzen. So aber ist Raddatz' Autobiographie auch das Monument einer anderen Zeit und vielleicht auch eine Erklärung dafür, warum es heute keine neuen Kritikerpäpste mehr gibt.
Also spenden wir Applaus für eine grandiose, provozierende und durchaus auch lehrreiche (und trotzdem eben tatsächlich nicht langweilige) Bühnenshow, die hier als farbenfrohe Nummernrevue noch einmal an uns vorbeigezogen ist, spenden wir Applaus und vielleicht gönnt uns der Meister ja, so wie den Zuhörern in München, noch die eine oder andere Zugabe, bevor der letzte Vorhang fällt.
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