Von den Quellen bis wiedervereinigt - eine Zusammenschau

Über Reclams aktualisierte "Geschichte der deutschen Lyrik"

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In sechs Epochen gliedert Reclam die deutsche Dichtung in diesem kompakten Band: von den Anfängen bis heute. Entgegen allen Einwänden gegen ein solches Vorhaben ging es dem Verlag um ein erschwingliches Kompendium, 800 Jahre deutschsprachige Lyrik zwischen zwei Buchdeckeln darzustellen. Für jede Epoche - Mittelalter, Reformation bis Sturm/Drang, Klassik und Romantik, Zwischen Romantik und Naturalismus, Jahrhundertwende bis 1945, Seit 1945 - zeichnet ein anderer Verfasser. Wie im Vorwort deutlich gemacht wird, bringt das auch eine Methodenvielfalt mit sich, die - so der Herausgeber - bewusst und beabsichtigt ist. Beispielsweise frappiert nach dem mediengeschichtlichen Überblick über das Mittelalter der ideengeschichtliche Zugang vom Verfasser des Neuzeit-Artikels. Im Vorwort wird auf diese Brüche eingegangen, sie sollen aufzeigen, wie vielfältig der Blick sein kann, mit dem man sich ein Bild von einer Zeit und ihrer Dichtung macht.

Dabei wurde der Auseinandersetzung mit den Epochengrenzen, wie sie sich in der Germanistik eingebürgert haben, breiter Raum gewidmet. So gelingt es, einige Eckdaten aufzuweichen, die bislang als Schwellen gedient haben, und an mehreren Beispielen die Bedeutung historischer Ereignisse zugunsten längerfristiger Entwicklungen zu relativieren.

Beachtenswert erscheint mir vor allem der Beitrag Hermann Kortes über die Dichtung nach 1945. Korte geht auf Haltungen und Ansätze ein, die von den Irritationen zweier Weltkriege zerstreut wurden. Dabei gelingt es selten so neutral wie hier, die dichterischen Ambitionen beider Deutschlands, der Schweiz und der wieder völlig anders gearteten Österreicher nebeneinander zu stellen. Bei Korte findet die Dichterin Christine Lavant endlich die Aufmerksamkeit, von der ihre Geschlechtsgenossin Ingeborg Bachmann in deutschen Analysen immer schon zu viel bekommen hat. Zum ersten Mal erhalten Dichter wie Priessnitz und Jandl, Czernin, Schmatz und Waterhouse gebührendes Interesse. Und so erfüllt der Band seinen wohlmeinenden Zweck: Er bietet die verallgemeinernde Darstellung der ganzen deutschsprachigen Dichtung im Überblick.

Titelbild

Franz-Josef Holznagel / Hans-Georg Kemper / Hermann Korte / Mathias Mayer / Ralf Schnell / Bernhard Sorg: Geschichte der deutschen Lyrik.
Reclam Verlag, Stuttgart 2004.
755 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3150105447

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