Da ist sonst keine Erinnerung mehr
Hanna Krall erzählt von jüdischen Schicksalen
Von Lutz Hagestedt
"Schließlich 'überrascht uns die Tragödie nicht, welches Ausmaß sie auch hat', den Leser aber gilt es immer von neuem zu überraschen." Dieser Satz aus Hanna Kralls neuem Buch ist programmatisch zu verstehen: Die Zahlen der drei Millionen Vermißten, der sechs Millionen getöteten Juden, der 25 Millionen getöteten Zivilpersonen, der 27 Millionen getöteten Soldaten sind die traurige und unvorstellbare Bilanz des Zweiten Weltkrieges.
Im Grunde, so lautet Hanna Kralls Credo, können nur Einzelschicksale einen Eindruck vom wahren Schrecken des Holocaust vermitteln. Hanna Krall, Journalistin und Autorin, 1937 in Warschau geboren, macht sich in ihrem Werk, in ihren Reportagen und Erzählungen zur Stimme der Überlebenden des Holocaust. In Warschau hat sie das Ghetto und den Krieg überlebt, hat ein jahrelanges Publikationsverbot ausgestanden, hat Überlebende befragt und deren Gedächtnis aktiviert. Ihre Texte entstehen aus Teilnahme, aber ihre Stärke liegt in der protokollhaft nüchternen Sprache, die sie für ihre Aufzeichnungen verwendet. Nicht nur die ständige Todesangst, sondern auch die alltäglichen Lebensbedingungen, Hunger und Durst, Kälte und Feuchtigkeit, Krankheit und Siechtum, Wanzen und anderes Ungeziefer machen das Leben zur Hölle. Zwar gibt es noch im größten Elend Hoffnungszeichen, aber eben auch Ereignisse, die aller Hoffnung Hohn sprechen: "Naives Geschöpf. Sie glaubt, Gott käme es auf sie allein an. Ihm, der auf einen Streich sechs Millionen haben kann."
Mit Sarkasmus läßt sich das Leben bestehen, mit Lakonie läßt sich vom Schrecken erzählen. Viele haben ihr Leben gelebt und geschwiegen. Sie haben ihr Überleben als Schuld empfunden und erst im Alter das Bedürfnis verspürt, ihre Geschichte zu erzählen, ein Bedürfnis größer als die Scham. Ihr Schicksal ist zugleich das Schicksal anderer, "es alterte und wurde Vergangenheit". Hanna Krall hat es für die Nachkommenden gesammelt und dokumentiert.