Das Ich, die trügerisch besonnte Insel

Heidi Gidion hat ein Buch über "Literarische Gestaltungen der Identitätsproblematik" geschrieben

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie das Atmen setzt er bei der Geburt ein und hört erst mit dem Tod auf: unser Versuch, unsere Identität zu konstruieren. Wir erkennen uns als Individuum, lernen unsere Begrenzungen und passen uns an die Umwelt an, wir üben Sozialverhalten ein und gewöhnen uns an bestimmte Handlungsweisen. Der Konstruktionsprozess beruht auf einer Auseinandersetzung mit dem Anderen, mit dem, was außer uns ist, und doch ist die Erkenntnis des Anderen immer durch das bedingt, was in uns ist. Identität hat daher auch etwas mit Selbstfindung zu tun, mit dem Erkennen der eigenen Eigenschaften und Charakterzüge, in Übereinstimmung mit oder in Abgrenzung von Familienmitgliedern, Freunden und anderen, denen wir begegnen.

Für die Literatur war und ist der Prozess der Identitätskonstruktion besonders interessant, üblicherweise wird bei einer problematischer werdenden Identität von modernen Figuren gesprochen. Auch Heidi Gidion verwendet in ihrer Schau von "literarischen Gestaltungen der Identitätsproblematik" in erster Linie Texte des 20. Jahrhunderts. Sie zitiert zustimmend Peter von Matt: "Seit Freud ist der Mensch nicht mehr Herr über sich selbst. Er lebt zwar so, als wäre er es. Er urteilt über andere, als wären sie es. In Wahrheit aber ist das souveräne, seiner selbst bewußte Ich nur eine trügerisch besonnte Insel in einem riesigen, dunkel flutenden Meer." Das ist zweifellos richtig, doch ist das Ich nicht erst seit der Zeit um 1900 eine Insel, vielmehr strahlt das Licht der Erklärung zurück in die (Literatur-)Geschichte. Man könnte beispielsweise auf Goethes "Werther" und Schillers "Räuber" zurückgreifen, beide zeigen gescheiterte Versuche, im Konstruktionsprozess die eigene Individualität gegenüber den als Zwang empfundenen Normen und Werten durchzusetzen. Schon diese Individuen sind am Textbeginn Subjekte, Unterworfene, wenn nicht gar Getriebene wie Franz Moor, der die Zurücksetzung durch den Vater nie verwinden konnte.

Ein großes Thema also, an das sich ein schmales Buch von nur 144 Seiten wagt. Das kann eigentlich nicht gut gehen, von den fast erwartbaren Defiziten wird noch zu handeln sein. Doch ist es erstaunlich, wie viel an Erkenntniswert in dem schmalen Büchlein enthalten ist. Gidion hat einige dafür wichtige Weichenstellungen getroffen. Subjekttheorie spielt für sie fast keine Rolle, auf wissenschaftliche Unterfütterung verzichtet sie weitgehend, auch bei der Interpretation der ausgewählten Werke. Ihr Verfahren ist essayistisch zu nennen, formal (Verzicht auf Fußnoten und Belege) wie inhaltlich. Sie hat viele, in dieser Zusammenstellung hochinteressante Belege literarischer Thematisierung von Identitätskonstruktion gesammelt und baut darauf ihre Argumentation, die keiner zentralen These folgt, sondern um die Gefährdungen des Ich kreist, wie es die literarischen Texte ja auch tun. Hier die Kapitelüberschriften, die - vom einleitenden ersten Kapitel und einem Versuch der Bündelung der Ergebnisse am Beispiel im letzten Kapitel abgesehen - schlaglichtartig Schwerpunkte setzen: "Der Mensch, das gespaltene Wesen"; "Identität als literarisches Thema mit Variationen"; "Gemalte Selbstporträts"; "Autobiografie als Dichtung und Wahrheit"; ",Wo ist das Kind, das ich gewesen?'"; "Das 'Ich ohne Gewähr' und das Ich als Utopie"; "Exemplarische Erzählungen"; "Epilog: Anmerkungen zu Joanne K. Rowling, 'Harry Potter'". Bei den exemplarisch vertieften Erzählungen handelt es sich um spannende und hochaktuelle Beispiele: Roth, "Der menschliche Makel"; Franzen, "Die Korrekturen"; Christia Wolf, "Leibhaftig". Die Zusammenstellung und Anordnung der Beispiele macht deutlich, dass geographische und kulturelle Grenzen für Gidion keine Rolle spielen. Nur gattungstypologische Grenzen werden beachtet, soweit sie relevant sind, doch entpuppen auch sie sich bei näherem Hinsehen als weniger wichtig. Die Autobiographie zum Beispiel unterliegt, wie Gidion zeigt, ähnlichen Konstruktionsprinzipien wie fiktive Lebensläufe. Aufschlussreich ist der Standpunkt von Roland Barthes, den sie zitiert: "Die Ereignisse unseres Lebens stellen für uns einen Deutungsraum bereit, ein Imaginarium."

Es fehlt so viel, dass es sich kaum lohnt, darauf einzugehen. Lacan mit seinem Spiegelstadium oder Foucault als derjenige, der die vielfältigen Machtbeziehungen beschrieben hat, die das Subjekt umgeben und durchtränken, werden nicht einmal erwähnt. Der Autor, bei dem Identität problematischer ist als bei jedem anderen, Franz Kafka also wird nur kurz gestreift. Wer an einer wissenschaftlich fundierten und strukturierten Abhandlung über die Identitätsproblematik interessiert ist, der ist bei Gidion an der falschen Adresse. Wer aber ein generelles, nicht festgelegtes Interesse befriedigen, einmal in das Thema hineinschnuppern will oder damit vertraut und auf der Suche nach "literarischen Gestaltungen" ist, die er vielleicht noch nicht kennt, der sollte zu diesem Buch greifen. Dass es schön geschrieben ist, steht außer Frage, und das war bereits für Heinrich Heine ein ausschlaggebendes Qualitätskriterium.

Titelbild

Heidi Gidion: Bin ich das? Oder das? Literarische Gestaltungen der Identitätsproblematik.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004.
144 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3525208340

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