Eine Dichterin, die man ernst, aber nicht wörtlich nehmen sollte

Sigrid Bauschinger über Else Lasker-Schüler

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon 1980 hatte die Germanistin Sigrid Bauschinger das Werk von Else Lasker-Schüler und ihre Zeit in einer umfangreichen Studie untersucht, laut Ingeborg Drewitz, sorgfältig und gründlich. Gleichwohl hat der seit 1964 in Jerusalem beheimatete jüdische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Jakob Hessing in seinem 1985 erschienenen Buch "Else Lasker-Schüler. Ein Leben zwischen Bohème und Exil" daran Anstoß genommen und bemängelt, dass Sigrid Bauschinger, wie schon Dieter Bänsch in den sechziger Jahren, das Judentum von Else Lasker-Schüler nicht zutreffend gewürdigt und "zu dem Verständnis ihrer Lebenstragödie" wenig beigetragen habe.

Aber nicht nur Sigrid Bauschinger und Dieter Bänsch bekamen seinerzeit Hessings Zorn zu spüren. In seinem später veröffentlichten Buch "Die Heimkehr einer jüdischen Emigrantin. Else Lasker-Schülers mythisierende Rezeption 1945 - 1971" bezichtigte der Jerusalemer Germanist die gesamte Else Lasker-Schüler-Forschung, von einigen Ausnahmen abgesehen, Leben und Werk der Dichterin mythisiert und sich dem historischen Tatbestand verweigert zu haben.

Inzwischen sind Kenntnis, Einfühlung und Verständnis gegenüber der jüdischen Problematik auch bei Nichtjuden gewachsen, was sich auf Sigrid Bauschingers neue Biographie zweifellos positiv ausgewirkt hat. Hinzu kommt, dass mit der Kritischen Ausgabe der Werke und Briefe der Lasker-Schüler nun auch bessere Voraussetzungen gegeben sind, das Leben der Dichterin zu beschreiben, wenn auch immer noch nicht lückenlos, wie Bauschinger in ihrem Nachwort anmerkt. Allerdings handelt es sich hierbei allenfalls um kaum wahrnehmbare Lücken, hat man doch beim Lesen ihres Buches mitunter das Gefühl, dass die Autorin des Guten zu viel getan und alles aufgelistet und zu Papier gebracht hat, wessen sie nur habhaft werden konnte.

Zugute kam Bauschinger außerdem, dass mittlerweile bekannt geworden ist, was Else Lasker-Schüler wann, wie und wo - oft an entlegener Stelle - zum ersten Mal veröffentlicht hat und dass heute ihre nachgelassenen Werke vollständig, mit den handschriftlichen Varianten, vorliegen.

Sigrid Bauschinger erweist sich in ihrem neuen Buch jedenfalls als ausgezeichnete Kennerin der Dichterin Else Lasker-Schüler. Sie hat offensichtlich gründliche Recherchen betrieben und allem Anschein nach keine Mühe gescheut, sich seltene Bilder zu beschaffen, um ihren Band damit reichlich ausstatten zu können. Ein Bild beispielsweise zeigt die Dichterin als Performance-Künstlerin im Jahr 1910. Einige Zeichnungen wiederum sind mit "Prinz von Theben" unterschrieben und stammen von Else Lasker-Schüler selbst. Entstanden ist so eine ausführliche, solide und anschauliche, wenn auch konventionelle Darstellung der Dichterin.

Wie bei einer Lebensbeschreibung üblich, beginnt die Autorin mit Kindheit und Jugend ihrer Protagonistin in Elberfeld in den Jahren von 1869 bis 1894, wobei sie auch auf deren Eltern, Geschwister und Vorfahren eingeht. Geboren wurde Else Lasker-Schüler im Februar 1869 in Elberfeld als sechstes und jüngstes Kind ihrer Eltern. Während die Liebe des Vaters dem Theater galt und Theaterleidenschaft auch Else zu eigen war, verkörperte die Mutter eher das lyrische Temperament. Sie starb, als Else einundzwanzig Jahre alt war. Für die Tochter war der Tod der Mutter eine "kosmische Katastrophe".

Da Else Lasker-Schüler häufig aus ihrem Leben erzählt hat, vorwiegend aus ihrer Kindheit - auch in ihre Briefe hat sie immer wieder Erinnerungen durchweg nur an die Kindheit und frühe Jugend in Elberfeld eingestreut -, greift Sigrid Bauschinger mit Vorliebe auf Aussagen der Dichterin zurück, zieht aber auch dokumentarische Quellen heran, die darüber berichten, wie es "eigentlich" gewesen ist. Doch weiß sie auch, dass man der Dichterin letztlich nur dann wirklich näher kommt, wenn man sich an ihre Phantasieprodukte hält. Denn bei ihr ging es nicht um "Dichtung und Wahrheit", sondern um "Dichtung als Wahrheit". Schon früh begann sie zu schreiben und zu zeichnen und "wollte von Anfang an nie Dagewesenes".

Wie ihre Schwestern lebte Else Lasker-Schüler bis zu ihrer Heirat 1894 mit Berthold Lasker im Elternhaus. (Hier ist eine kleine Unstimmigkeit am Rande zu vermerken: Einmal verlegt die Autorin die Hochzeit in das Jahr 1895, macht aber einige Seiten weiter darauf aufmerksam, dass das Ehepaar im August 1894 nach Berlin gezogen sei. Auch die Zeittafel nennt als Heiratsjahr das Jahr 1894.)

Im zweiten Abschnitt beschreibt Sigrid Bauschinger Else Lasker-Schülers erste Ehe bis zur Scheidung 1903. In Berlin wurde Else Lasker-Schüler in bestimmte literarische Kreise eingeführt. Peter Hille, der schon zu Lebzeiten eine legendäre Gestalt war, und Samuel Lublinski sollen sich ständig um sie geschart haben "wie Flügeladjutanten". Aber nicht nur diese beiden, auch andere Freunde und Bekannte werden ausführlich porträtiert, wie etwa Richard Dehmel, die Brüder Hart und Mann, Karl Kraus, Ernst Stadler und viele andere, die allesamt zu dem Kreis um Else gehörten.

Im August 1899 wurde Elses Wunschkind Jean Paul Adolf Arthur Lasker geboren. Damals lebte die Dichterin schon nicht mehr bei ihrem Mann, der, wie sie immer behauptet hat, nicht der Vater ihres Kindes gewesen sein soll.

Bauschinger schildert mit ungebremster Detailfreude die Berliner Jahre, einzelne Veranstaltungen der "Neuen Gemeinschaft", in der die "Verschmelzung von Religion, Kunst, Wissen und Leben" propagiert wurde, sowie Else Lasker-Schülers Ehe mit Herwarth Walden, den sie 1900 als 22-jährigen Georg Levin kennen gelernt und dem sie bald danach den Namen Herwarth Walden gegeben hatte. Die Ehe mit Walden hielt bis 1912. Ausführlich werden die nicht abreißenden finanziellen Schwierigkeiten dargestellt. "Ob Waldens Verein für Kunst und seine Zeitschrift 'Der Sturm' oder Else Lasker-Schülers Performance-Projekt um 1912, immer standen diese Unternehmen finanziell auf der Kippe."

Gerade das Jahr 1911 war reich an Höhen und Tiefen. Es brachte im Frühling die dritte Gedichtsammlung "Meine Wunder". Bald darauf entstand der Gedichtzyklus der "Hebräischen Balladen". Durch eines dieser Gedichte fand Else Lasker-Schüler die Verbindung zu Franz Marc. Die Beziehung zu Gottfried Benn wird ebenfalls gestreift.

Sigrid Bauschinger stellt das Leben der Dichterin als Dauerkrise dar, in der sie viel Hilfe erfuhr, aber auch selbst "eine unglaubliche Zahl von Hilfsaktionen für andere unternahm." Zudem war ihr Gesundheitszustand selten gut. Trotzdem hielt sie Vorträge in aller Welt, auch in Moskau. Ihr Name war bald über Bohèmekreise hinaus bekannt, auch wenn er nicht nur Bewunderer in den verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen hatte. Es gab nicht wenige, die eine unverhohlene Abneigung gegenüber dem "Prinzen von Theben" zeigten, wie etwa der Diplomat Harry Graf Kessler, der "diese grässliche Person zu vermeiden" suchte, sowie Kafka und Rilke, die der Autorin nichts abgewinnen konnten. Im Ersten Weltkrieg verlor sie etliche ihrer Künstlerfreunde, der erste Kriegstote aus ihrem Freundeskreis war Georg Trakl.

Sigrid Bauschinger charakterisiert ihre Heldin als eine temperamentvolle exzentrische, zu Zornesausbrüchen neigende Individualistin, die sich von Anfang an ihrer künstlerischen Begabung bewusst war und mit untrüglichem Instinkt erkannte, oft als eine der ersten, die Großen der Moderne in Literatur und bildender Kunst wie Gottfried Benn, Franz Marc, Oskar Kokoschka und Georg Trakl. Man sollte sie nicht wörtlich, aber ernst nehmen, mahnt die Autorin. In vielem war sie ihrer Zeit voraus. Bauschinger fügt Gedichte und Lieder ein, geht auf ihre Bücher und ihr Schauspiel "Die Wupper" ein, schildert plastisch, wie sich Else Lasker-Schüler ihren eigenen Orient in ihren Dichtungen erschuf, gibt Anekdoten wieder, lustige und traurige, und legt dar, unter welchen Bedingungen das Werk im einzelnen entstand.

Der härteste Schicksalsschlag für die Dichterin war zweifellos der Tod ihres geliebten Sohnes im Dezember 1927.

Breiten Raum nehmen nach der Zeit der Weimarer Republik auch die Jahre im Exil ein. Am 19. April 1933 hatte die Dichterin Berlin für immer verlassen und war, nachdem sie die ersten sechs Jahre in der Schweiz verbracht hatte, 1939 endgültig nach Jerusalem umgezogen. Auch hier blieb sie nicht untätig und bemühte sich, ihren Teil zur Annäherung und Verständigung zwischen Juden und Arabern beizutragen.

In den letzten beiden Jahren ihres Lebens war sie weder verarmt noch äußerlich vereinsamt. Vielmehr wurde sie von vielen Freunden und Gönnern tatkräftig unterstützt. Dennoch vermochte nichts und niemand ihre zunehmende Verzweiflung zu mildern. Am 22. Januar 1945 starb sie im Hadassa Hospital auf dem Mount Skopus, wohin man sie nach einem Herzanfall wenige Tage zuvor gebracht hatte.

Sie wurde auf dem Ölberg begraben. Drei Jahre danach wurde ihr Grab durch kriegerische Auseinandersetzungen nach der Teilung Jerusalems zerstört. Später wurden ihre Gebeine mit denen von 34 Toten zusammen begraben. "Heute verkünden eine hebräische und eine deutsch beschriftete Tafel, wer unter diesem Stein geruht hat." Damit schließt Sigrid Bauschingers umfangreiche Else Lasker-Schüler-Biographie, in der gewissenhaft alles zusammengefasst sein dürfte, was man heute über die Dichterin wissen und mitteilen kann.

Titelbild

Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler. Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2004.
496 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-10: 3892444404

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