Alles ist kontextuell

Lutz Musner und Gotthart Wunberg stellen Forschungen, Praxen und Positionen der Kulturwissenschaften vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einstein wird gerne die Sentenz in den Mund gelegt, dass alles relativ sei. Lawrence Grossberg nun ist der Auffassung, alles sei kontextuell. Zumindest für die Cultural Studies. Und mehr noch, der Kontext sei alles, wie er in einem Aufsatz darlegt, der das "riskante Geschäft" einer Definition der Cultural Studies unternimmt. Riskant sei es, da eine jede Definition zumindest von einigen nicht anerkannt werde, die ihrem Selbstverständnis nach Cultural Studies betreiben. Grossbergs Vorschlag besteht nun darin, die "Einzigartigkeit" der Cultural Studies in der "Verpflichtung gegenüber dem Kontextualismus" zu sehen. Denn sie seien ein "rigoroser Versuch", politische und intellektuelle Arbeit zu kontextualisieren. Diese "Festlegung auf radikale Kontextualität" definiere sie jedoch nicht nur, zugleich verunmögliche sie auch ihre Definition, wie Grossberg derridaesk erklärt, um sodann drei theoretische Charakteristika der Cultural Studies zu bestimmen: Anti-Essenzialismus, Konstruktivismus und Materialismus. Allerdings reichen drei Merkmale alleine noch nicht hin, den "Raum" der Cultural Studies abzugrenzen. Als orientiere er sich an dem im europäischen Kulturraum von der Antike bis ins 19. Jahrhundert verdeckt virulenten und von Reinhard Brandt im 20. Jahrhundert aufgedeckten Ordnungsmuster "1, 2, 3 / 4", lässt er zu der Trias ein notwendiges Viertes als "letzte Definitionsart" hinzutreten: die Praxis.

Grossbergs Definition der Cultural Studies findet sich in einem von Lutz Musner und Gotthart Wunberg herausgegebenen Sammelband, der eigentlich weniger den anglo-amerikanischen Cultural Studies gilt als vielmehr den Forschungen, Praxen und Positionen der in Deutschland betriebenen Kulturwissenschaften. Doch da diese, wie Christian Gerbel und Lutz Musner in einem einleitenden Text feststellen, sowohl auf materialer wie auch auf theoretischer Ebene des Kulturenvergleichs bedürfen, und es dem Band demzufolge darum geht, "verschiedene regionale bzw. 'nationale' Varianten und Variationen von Kulturstudien miteinander ins Gespräch zu bringen", wurde mit Grossbergs Beitrag auch ein Text eines der renommiertesten Vertreter der Cultural Studies aufgenommen, die sich von den Kulturwissenschaften nicht zuletzt dadurch unterschieden, dass sie versuchten "ein politisches Projekt sui generis" zu sein, während diese ein aus "unübersehbaren Krisensymptomen" der Geisteswissenschaften heraus entstandenes, "fächerbezogenes Innovationsverfahren" seien.

Die Beitragenden des in die drei Teile "Kultur - Zugänge und Theorien", "Kultur, Natur und Politik" sowie "Kultur und Medien" untergliederten Bandes befassen sich etwa mit dem "Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften" (Aleida Assmann), "Konjunktur und Krise des Kulturkonzepts" (Rolf Lindner), der "Geschichte des Generationenkonzepts" (Sigrid Weigel) oder der "Frage nach der Lesbarkeit von Kulturen als Texten" (Thomas Macho).

In einem über weite Strecken mit leicht ironischem Augenzwinkern verfassten Beitrag über "[d]ie Kongresstasche und die Europäische Ethnologie" konstatiert der österreichische Ethnologe Konrad Köstin die "Verrucksackung der Deutschen". Sein "Taschenexempel" dient ihm allerdings nur als Entree zum eigentlichen Thema seines Textes: der durch die Unsicherheit der "gelebten Lebenswelten" in der Moderne evozierten Bewunderung "der Selbstverständlichkeit alltäglicher Lebensvollzüge" des "binnenexotisch verfremdeten Eigenen".

Heidrun Zettelbauer geht den vielfältigen Interaktionen der Phänomene Gender, Körper und Nation nach, wie sie etwa in der "Hochstilisierung von Mutterschaft", im Verbot von "Mischehen 'national-eigner' Frauen mit 'national-fremden' Männern", in der "Übersexualisierung 'fremder' Frauen" oder in der "körperlichen Feminisierung 'fremder' Männer" zum Ausdruck kommen.

Zu den erhellendsten Beiträgen des vorliegenden Bandes gehören zweifellos die Arbeiten von Elisabeth Bronfen und Daniela Hammer-Tugendhat. Hammer-Tugendhat stellt anhand von Bildern der Lukretia und der Susanna aufschlussreiche Überlegungen zur Darstellung von Frauen und Sexualität in der bildenden Kunst an. Sie fragt dabei nicht nur danach, was oder wer wie dargestellt ist, sondern zeigt, dass vielmehr gerade die Frage erhellend sein kann, "wer oder was in bestimmten Zusammenhängen überhaupt nicht mehr Gegenstand der Repräsentation ist", obwohl er oder es konstitutiv für die Narration ist wie etwa die vergewaltigende Männergewalt in den Darstellungen der Lukretia.

Elisabeth Bronfen entwirft unter Rückgriff auf Stephen Greenblatts Begriff "energia", der besagt, dass die sich "hartnäckig" durchsetzende Kraft ästhetischer Werke auf einen "strukturierten Prozeß der Verhandlung und des Austausches" zurückzuführen sei, der bereits im "ursprünglichen Augenblick der Bemächtigung" bemerkbar war und von den "kulturellen Umschriften" dieses Werkes tradiert wird, ein instruktives Interpretationsverfahren, das sie "cross-maping" nennt. Das von ihr unter diesem Titel vorgeschlagene Verfahren des "Aufeinanderlagern[s]" oder "Kartographieren[s] von Denkfiguren" legt Ähnlichkeiten zwischen ästhetischen Werken offen, für die "keine eindeutigen intertextuellen Beziehungen" im Sinne von "expliziten Einflüssen" festgestellt werden können. Anschließend erprobt sie ihr innovatives Konzept, indem sie Stanley Kubricks Film "Eyes Wide Shut" und David Finchers "Fight Club" (beide 1999) auf literarische Texte rückbezieht, "die um die Frage kreisen, wie das weibliche Subjekt sich in bezug auf die symbolischen Codes und Gesetze, die es definieren, entwirft bzw. wie es durch diese symbolische Ordnung konzipiert wird".

Titelbild

Lutz Musner / Gotthart Wunberg (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung - Praxis - Positionen.
Rombach Verlag, Freiburg 2003.
387 Seiten, 28,20 EUR.
ISBN-10: 3793093735

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