Der kostümierten Stadt die Entkleidung

In seinen neuen Prosaminiaturen geht Friedrich Achleitner auf Erkundungs- und Streifzüge durch Wien

Von Jens RomahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Romahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Friedrich Achleitner, einst Mitglied der legendären Wiener Gruppe, im letzten Jahr erstmals eine Prosasammlung ("einschlafgeschichten") vorlegte, sicherte ihm dies den allseitigen Zuspruch durch die literarische Kritik. In den neuen Prosaskizzen, den "wiener linien", begibt sich der Autor über allerlei schmale Grate und Kreuzungen eines mit viel Eigensinn geschaffenen furiosen Sprachgitters hinweg auf Wanderungen durch das Wiener Gemeinleben und spielt dabei jedes Mal auf interessante Weise mit der Erwartungshaltung des Lesers. Nie ist es der Weg des direkten Anschreibens gegen eine beschädigte Welt (etwa bei Bernhard und Jelinek) sondern der mehr oder minder sakrische Humor, mit dem Achleitner dem Leser die skurrilen Auswüchse des Wiener Hauptstadtbetragens mittels klar vernehmbarer Sprachspielmodelle mit spitzer literarischer Feder aufzieht. Das Ergebnis sind kurze pointierte Hinwendungen und fein ausziselierte Karikaturen, die bald etwas von der Fallhöhe jener keinesfalls unpolitischen Petitessen seines literarischen Workouts zu erkennen geben. Dies um so mehr, da sich Achleitner inmitten der Wiener Gesellschaft bewegt, die sich mit kollektiv eingebautem Unschuldsmythos so gern auf einem firnishaft-funkelnden Parkett zum Wiener Walzer in einem fort dreht und dreht.

Eine typische Person aus dem Achleitner'schen Figurenensemble ist der namenlose Wiener, der "sein gehirn mit einem trachtenhut in den schwitzkasten" nimmt und "es mit schildhahnenfedern und anderen antennen seines vorwiegend virtuellen, in einem büro schwitzenden jägerdaseins" malträtiert. Wendriner-Geschichten nach Wiener Art: Der Wiener, er bleibt nun einmal wie er ist, grantig, "halbert", vertratscht, zögerlich und hinterrucks. Die kleine Menschenkunde Achleitners wird zu einer Polemik aus enttäuschter Menschenliebe im Stil von Kurt Tucholsky. Steckte bei diesem der Feind im Militarismus, in der Bürokratie, im Mitläufertum, so verschwindet dieser bei Achleitner in den feinen Verästelungen bizarrer Alltagsgeschichten. Man denke nur an das tief verwurzelte Schmähreden in Wien: So spricht Achleitner vom gustl-Charakter unter dem Titel "gustl und ungustl" oder vom Sprücheklopfen des Wieners in der Geschichte vom "sprücheklopfer", als gustl ist er der geborene Intrigant, der aus dem Schmähführen einfach nicht herauskommt, "ein gustl intrigiert aber nicht aus einem bestimmten zweck, aus bereicherung oder anderen unlauteren motiven, sondern er intrigiert platonisch, quasi an sich", wobei zu gustln heisst, etwas unter Schwüren zu behaupten, dessen Gegenteil erwiesen ist.

Auch mit den mit den Migranten war es schon immer so eine Sache, keine Herzenssache eben, das war schon mit den Sandlern, die in der Gründerzeit aus Böhmen und Mähren zuwanderten und bald darauf als Arbeiter in den Ziegelfabriken arbeiteten, nicht anders. Das Zentralorgan der übleren Instinkte, die "Kronen-Zeitung", die schon einmal zur Sozialistenjagd gegen Turrini und Jelinek aufrief, wiegt den Wiener in einen sanften Taumel während der Fahrt in der dahinbummelnden Tram-Bahn. Achleitner steigt in die U3 und hält den hemdsärmeligen "Krone"-Lesern dort ein Stakkato der eigenen Art entgegen, freut sich über einen slowakischen Fahrgast, irgendwo auf der Fahrt zwischen Ottakring, Zieglergasse, Neubaugasse oder Stephansplatz, der seinen Daheimgebliebenen mit Verve über Handy die Preise in der Wiener Einkaufswelt an der Mariahilfstrasse wie Wasserstandsmeldungen durchsagt: So hätten die Wiener doch endlich mal die Gelegenheit, von der überquellenden sprachlichen Energie mal ein Bröckchen abzuschöpfen, um so etwas gegen die manchmal ostentative Feindseeligkeit gegenüber Fremden und Touristen zu tun.

Achleitner, der seit Jahren als Kulturpublizist und als Verfasser eines Architekturführers für Wien tätig ist, führte in das Feuilleton der Tageszeitungen das Genre der Architekturkritik ein. Und irgendwie schmiedet er genau aus diesen Erfahrungen in einer glanzvollen Liason seiner bisherigen Erfahrungsseelenkunde mit einer Environtologie des Architektonischen ein verändertes poetisches Vorgehen. An jenen Stellen verlässt er die Karikatur, lesbar werden "Topographien der Erinnerung", sichtbar erstrahlen Gründerzeithäuser unter ihrer pittoresken betagten Altersschönheit. Der Leser taucht tief in die "Grätzelstruktur" der Wiener Bezirke ein, erfährt, wo es was zu hören gibt, weiß, was man in einem Viertel anzutreffen vermag. Am Ende hat er eine Menge erfahren, dringt tief in Lebensräume ein. Im städtischen Raum jetzt geht es an zentraler Stelle der Prosaminiaturen um ein verfallenes Gebäude, das als Ruine der Vergangenheit den Blick der Gegenwart schärfen soll. Walter Benjamin tat dies bereits um die Jahrhundertwende mit seinen Denkbildern in der "Berliner Kindheit um 1900".

In der Mitte des Achleitner'schen Buches lesen wir: "otto-bauer-gasse 22- requiem für ein haus", hier kommentiert der Architekt Achleitner die "Verschandelung alter Bausubstanz" und sieht doch mehr, erblickt in seinen Imaginationen einen Wiedergänger, das letzte Bild eines Menschen nach dem Abriss seines Hauses, wieder oder immer noch auf dem schon längst abgesprengten Balkon stehend. Rundherum Abbrucharbeiter, die der "welt ein loch rennen". So bekommt der Leser das Gefühl davon, wie durch den Niedergang eines Gründzeithauses der wertvolle Schmuck des Interieurs in ihm mit niedergeht, ganze Mythen des Alltags verschwinden. Und ein letztes Mal ist es so, als hielte sich das abzureißende Haus an seine alten Partner-Häuser fest: "weg die spuren eines über hundert jahre ineinander verpackten, verkeilten, verpappten wiener lebens". Deutlich wird eine neue Beurteilung der Gemengelage von Beziehungen und Platzierungen, Achleitner will genauer sondieren, was man die Zeit und was man die Geschichte nennt. Programmatisch heisst es unter dem Titel "dahinter": "gesellschaftliche oberfläche und ihre hintergründe sichtbar machen" unter zu viel glänzenden Flächen zur "ausgeschalteten und zugedeckten welt vordringen", zur eigentlichen zur konstituierenden Wirklichkeit einer Stadt.

Schon in seinen "Wiener Vorlesungen" sprach Friedrich Achleitner von der Last eines immerwährenden Geschichtsimpulses in der Wiener Architektur, von der "endlosen Karlsplatztragödie" und von Architektenkollegen, die sich partout nicht von der alten Reichsidee mit den Ausläufern der barock-katholisch-habsburgischen Linie lösen konnten, diese in jedem Stück Stein nach wie vor kenntlich machen. Die urzeitliche Aura der Stadtarchitektur war damit unterhalb des Scheitelpunktes architektonischer Höhenkämme angekommen, viele Gebäudeansichten waren minimiert zu basalen Orten des Stillstands, an denen das Geschichtsträchtige einer Vergangenheit aus Urzeiten wie in leeren Augenhöhlen ruht. Der Leser ahnt um weitere Gründe für jenes Weltverhalten des tändelnden Wieners mit der allseits bekannten Mischung aus Tod, Ambivalenz und Schönbrunn: Der Autor Achleitner weiß sehr viel davon zu erzählen.

Titelbild

Friedrich Achleitner: Wiener Linien.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004.
100 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3552052879

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