Revolution der Moderne

Vargas Llosa weiß, wo das Paradies liegt

Von Katharina HübelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Hübel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erblindet von der Syphilis, bei lebendigem Leib verfaulend, versucht Paul Gauguin noch kurz vor seinem Tod, das wilde Geheimnis der Südsee in Farbe umzuwandeln. Rund 50 Jahre zuvor begibt sich Flora Tristán in die Elendsviertel der europäischen Großstädte, sie sieht die Auswüchse der Prostitution in London, die widrigen Bedingungen der Arbeiter, ihrer Frauen und Kinder in Paris.

Die Revolution der Moderne hat verschiedene Gesichter. Mario Vargas Llosa hat sich in seinem jüngsten Roman "Das Paradies ist anderswo" ("El Paraíso en la otra esquina", 2003) dem Portrait zweier bemerkenswerter Rebellen aus dem 19. Jahrhundert verschrieben: dem künstlerischen Revoluzzer Gauguin und der sozialen Kämpferin Flora Tristán.

Das Erstaunliche: Über die biologische Verwandtschaft hinaus - Gauguin ist ein Enkel Floras - entdeckt Vargas Llosa geistige Parallelen in den scheinbar sich kontrastierenden, zusammenhanglosen Lebensläufen. Der Autor stellt wechselweise ein Kapitel aus dem Leben Floras und eines aus dem Gauguins dar und schafft dadurch eine gegenseitige Erhellung, Kontrastierung und vor allem eine konsequente Parallelisierung der Schicksale, Visionen und Ideen. Unfasslich ist dies, weil es sich zunächst um zwei Geschichten zu handeln scheint, die besser getrennt erzählt würden; unglaublich, weil der Leser dann merkt: die historisch fundierten Biographien und Umstände schildern ein und denselben Kampf gegen die verbürgerlichte Zivilisation mit all ihren Ungerechtigkeiten. "Das Paradies ist anderswo" ist ein Buch über die soziale und künstlerische Revolution der Moderne, die geistesgeschichtlich in das 20. Jahrhundert übergeleitet hat - und das innerhalb von 50 Jahren, innerhalb einer Familie - innerhalb eines Buches. Ein echtes Kunststück voll aufrührerischer Sprachgewalt.

Der Roman setzt ein mit der Rebellion der Figuren: Flora, von ihrem rechtmäßigen Ehemann misshandelt, vergewaltigt und angeklagt vor Gericht, verfolgt von der Polizei, die entlaufene Ehefrauen dem Henker übergibt, hat der französischen Zivilisation den Kampf angesagt. Fortan kämpft sie in Pamphleten wie "L'Union ouvrière" oder "Die Fahrten einer Paria" - zu dessen Neuauflage (2004) Vargas Llosa das Vorwort geschrieben hat - für soziale Gerechtigkeit für Arbeiter und Frauen. Sie zieht, angefeindet von der Obrigkeit, von Stadt zu Stadt und sammelt Anhänger für ihr modernes Staatskonzept. Paul Gauguin hingegen hat zunächst keinen Grund, sich über sein Schicksal zu beklagen: Er sitzt als gut verdienender Börsenangestellter fest im Sattel der Gesellschaft. Doch er katapultiert sich selbst aus der Zivilisation in die Barbarei. Mit über 30 Jahren entdeckt er seine Leidenschaft für die Malerei und stellt darüber die Lebensform seiner Gegenwart in Frage. Er flüchtet vor Bürgerlichkeit und Ehe in das Land der Wilden, der Ungebundenheit, Einfachheit und sexuellen Freiheit. Fortan malt er mit seinen Südseebildern gegen das Gesellschaftskonzept der westlichen Welt an.

Dieser Kampf, der bei Flora wie bei Gauguin in der Zerstörung der Familie und des Selbst, in schlimmer Krankheit und qualvollem Tod gipfelt, verbindet die beiden Figuren. Sie sind Rebellen gegen die Fesseln der Gesellschaft. Beide haben ihre rücksichtslosen Visionen: Sie träumen vom Paradies. Vargas Llosa verknüpft dieses zentrale Motiv mit einem Kinderspiel, das den Roman umspannt und Gauguin wie Flora begegnet. Das Spiel ist die Suche nach dem verlorenen Paradies, die sich in einer endlosen Kette von Hoffnung und Enttäuschung, ein ganzes Menschenleben lang, über ganze Generationen hinweg, fortsetzt. Für Gauguin ist das Paradies die Wildheit, das natürliche Volk. Zunächst in Tahiti, dann auf den Marquesas muss er jedoch feststellen, dass die westliche Welt bereits Einzug gehalten hat. Daran ändern auch seine Versuche nichts, die Eingeborenen zum Widerstand anzustacheln. Für Flora ist das Paradies die Überwindung der Wildheit, die Schaffung einer wahren, gerechten Zivilisation. Und hier merkt man: Wo sich die Ideen von Flora und Paul kreuzen, da fangen sie an auseinander zu laufen. Beide wollen Ähnliches, nur mit anderen Mitteln, mit anderer Motivation. So wird gerade in den ersten Gauguin-Kapiteln mit rücksichtsloser Sprachgewalt und Detailgenauigkeit der sexuelle Akt des Malers als Mittel der Selbstverwirklichung dargestellt. Manchmal zu schockierend für den Leser. Doch die Absicht ist gelungen: Gauguin soll nicht allein zum künstlerischen Erneuerer stilisiert werden. Vargas Llosa liefert dem Leser auch die Schattenseite des Franzosen, der seine Umwelt zugunsten seiner eigenen Inspiration auszusaugen schien. Die Frau als sexuell untergeordnetes und ausgebeutetes Wesen ("Sie war nur ein Paar schweißnasse Schenkel, ein Paar feste Brüste, ein Geschlecht") - das ist der Punkt, in dem sich Gauguin und seine Großmutter geradezu diametral gegenüberstehen.

Insgesamt hat "Das Paradies ist anderswo" von Anfang an einen Sog, der die Dicke von 500 Seiten vergessen lässt. Der Roman ist nicht nur bunt und abwechslungsreich, sondern überaus gut recherchiert und beschreibend. Vargas Llosa erzählt so treffend, dass sich die Bilder, die vor dem geistigen Auge entstehen, überraschend mit den Originalgemälden decken. Ein Missgriff in der deutschen Auflage ist da nur das Titelbild - zwar ein Hauptwerk Gauguins aus der Südseezeit, "Nafea fea ipoipo - Wann heiratest du?", aber von Vargas Llosa im Roman nicht beschrieben. Suhrkamp hätte da lieber "Pape moe" oder "Manao tupapao - der Geist der Toten wacht" wählen sollen, die innerhalb des Romans von Bedeutung sind.

Aber das Kunsthistorikerherz ist versöhnt, wenn es sich wieder der Erzählung widmet, die die künstlerische Entwicklungsgeschichte des 19. Jahrhunderts fundiert zitiert: Von dem Bruch Gauguins mit dem Impressionismus in Gestalt seines Freundes und Lehrers Camille Pissarro über die Van Gogh'sche Vision einer Künstlergemeinschaft und die Farbenlehre Zumbul-Zadés ("Papier Gauguin") bis hin zum Einfluss Edouard Manets auf die Impressionisten und Nachimpressionisten - Vargas Llosa kennt dies alles.

Die größte Empfehlung für ein faszinierendes Buch voller Kampf und Tatendrang, das den Leser anstachelt, anfeuert nachzuforschen, mehr zu erfahren über Gauguin, seine Bilder und seine ungewöhnliche Großmutter, über die Visionen des 19. Jahrhunderts und über die gesellschaftlichen wie künstlerischen Ideen der Zeit.

Titelbild

Mario Vargas Llosa: Das Paradies ist anderswo. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Elke Wehr.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
496 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3518416006
ISBN-13: 9783518416006

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