"Ein pointillistisches Patchwork aus Selbst-, Welt- und Werkbetrachtung ..."

Peter Rühmkorfs Rückblick auf die Jahre, die wir nicht mehr kennen

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Peter Rühmkorf vor beinahe einem Jahrzehnt seine Tagebücher ("Tabu I") veröffentlichte, wurde er allseits mit Lob bedacht, weil er in ihnen mit spitzer Feder und bisweilen reichlich miesepetrig jene Ereignisse der Jahre 1989 bis 1991 kommentierte, die in Deutschland gerne, aber historisch falsch als Wiedervereinigung gefeiert werden. Auch heute noch sitzt ihm der Schalk im Nacken, wenn er, nun weit jenseits des Rentenalters, keineswegs die Fortschreibung jener Schicksalsjahre vorlegt, sondern in "Tabu II" noch einmal rund zwanzig Jahre in die Vergangenheit zurückgeht, nämlich in die Jahre 1971/72, in denen der Reformeifer der Ära Brandt bereits erste Ermüdungserscheinungen zeigte, sich die antiautoritäre Linke in dogmatische Zellen aufspaltete und die vorgebliche Selbstbefreiung einer kleinen Gruppe zum blutigen Gesellschaftsdrama wurde.

Wenn man Rühmkorfs Diarium glauben will, so hat er all das schon vorausgeahnt, was uns heute längst zur traurigen Gewissheit geworden ist. Der Dachboden mit Telefon und TV-Anschluss in Övelgönne, den Rühmkorf nur zu wenigen, fast schon ritualisierten Ausflügen verlässt, bietet ihm für seine Weltbetrachtung die passende Perspektive. Es wird vielen nicht gefallen, die Rühmkorf in aller Schärfe erinnert, etwa diejenigen, die er wegen ihres modischen Revolutionsgebaren als "Popsozis" charakterisiert, Innenminister Schily z. B., der hier noch seinen späteren Kontrahenten Horst Mahler gegen die Republik verteidigt, der Weltreisende H. C. Buch, der unseren Dichter penetrant und "allen Ernstes als Genosse Rühmkorf" anzureden pflegt, Martin Walser, damals DKP-Mitglied, der als "reichlich mobiler Charakter" beschrieben wird. Fast ein Leitmotiv ist Rühmkorfs kumpelhafte Beziehung zu Klaus Röhl und dessen vormaliger Gattin Ulrike Meinhof. Deren öffentliches Auftreten entlarvt Rühmkorf als "Witz. Heilige Johanna verzehrt sich in unerwiderter Liebe zu einem Wichsblattverleger." In all der falschen Gemeinschaftsseligkeit bleibt Rühmkorf stets der Individualist, der bissige Außenseiter. Selbst das Wirken der eigenen Ehefrau Eva, die sich als Gefängnisdirektorin um einen menschenwürdigen Strafvollzug bemüht, wird mit milder Ironie bedacht. Das alles sind amüsante Streiflichter auf Jahre, die wir kaum mehr kennen.

Am interessantesten sind die Notizen allerdings dort, wo sie genregemäß um den Schreiber selber kreisen. Und hierbei hat er mehr mit Thomas Mann gemeinsam, als ihm vielleicht lieb ist: "13.5. Mich wachgehustet, Blut, Schleim, Qualsterklümpchen wie eingedickte Sukkade, Verdüsterungen ohne jede Hoffnung auf irgendwelche ernstzunehmenden Lichtblicke", so etwa lautet das beinahe tägliche Gesundheitsbulletin. Angesichts von dessen durchgängiger Untergangsstimmung muss man sich ernsthaft fragen, wie Rühmkorf am 25. Oktober 2004 nunmehr das 75. Lebensjahr vollenden konnte. Daneben notiert der etwas über vierzigjährige Misanthrop seine leicht verqueren erotischen Eskapaden mit einer halbwüchsigen und reichlich unbeholfenen Schülerin, der er sich als Nachhilfelehrer andient. Was als sexueller Befreiungsgang angelegt war, endet mit den Gewissenskrämpfen eines Bockes, der die Rolle des Gärtners nicht spielen kann.

Nahe an seinen Lübecker Nachbarn gerät Rühmkorf auch dort, wo er sich in den literarischen Grabenkämpfen jener Jahre positioniert. Denn hier sieht er sich durchaus als Traditionalist, der in den modernistischen Zeitströmungen unterzugehen droht. Wenn er Handkes "Kurzer Brief zum langen Abschied" als "doodlangweiliges Szeneprodukt" heruntermacht, so spürt man den Neid auf den erfolgreichen Kollegen. Heute hat sich das Blatt durchaus gewandelt. Während er im Tagebuch noch die finanzielle Misere und die ausbleibenden Würdigungen beklagt, hat Rühmkorf inzwischen fast alle Preise bis hinauf zum Georg-Büchner-Preis (1993) und dazu zwei Ehrendoktorhüte gewonnen; seine Texte, darunter auch die Theaterstücke, von denen er lange Szenen einfügt ("Was heiß hier Volsini?", "Lombard gibt den Letzten", "Die Handwerker kommen"), werden, anders als Handkes "Brief", der jüngst gar in die SZ-Bibliothek aufgenommen wurde, kaum mehr rezipiert.

Allerdings könnte Rühmkorf, ähnlich wie Thomas Mann, einmal als großer Tagebuchschreiber in die Literaturgeschichte eingehen, sind doch bereits frühere Titel, wie "Die Jahre die Ihr kennt" oder "Walther, Klopstock und Ich" als so genannte "Memobände" angelegt. Auf der Höhe seines Könnens zeigt sich der Tagebuchschreiber aber immer dort, wo er zum Sprachkünstler wird, wo sich das Lamento in flimmernde Lyrismen auflöst oder, wie Rühmkorf selbstironisch formuliert, in "buntes Vokabelkonfetti". Der "halb-heroische, halb nonchalante Unerheblichkeitston" ist es, der Rühmkorfs "pointillistisches Patchwork aus Selbst-, Welt- und Werkbetrachtung" so anziehend macht. Hoffentlich ist der letzte Eintrag "(Fortsetzung folgt)" keine leere Versprechung.

Titelbild

Peter Rühmkorf: Tabu II. Tagebücher 1971-1972.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
400 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3498057723

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch