Der fast Vergessene über seine vergessenen Vorbilder
Radio-, Literatur- und Zeitgeschichte: Elf Rundfunkessays von Arno Schmidt
Von Alexander Müller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseArno Schmidt hat eine verschworene Fan-Gemeinde, deren Anhänger sich im eigens dem Autor gewidmeten "Dechiffriersyndikat" zu übertreffen suchen, ansonsten ist Schmidt aber weitgehend in Vergessenheit geraten. In großen Überblicksdarstellungen zur deutschsprachigen Literatur nach 1945 wird er gern einmal weggelassen oder nur am Rande erwähnt, weil das Werk dieses seltsamen Solitärs den meisten Thesen von nachvollziehbaren Tendenzen und Stilrichtungen des Schreibens in der Nachkriegszeit widerspricht. Dabei wird er von beiden Seiten oft über- oder unterschätzt.
Eine sorgfältig edierte CD-Sammlung erlaubt es, Schmidts zum Teil obskure Vorbilder, und damit auch ihn, neu und lustvoll zu entdecken. Die literarischen Vorlagen zu diesen Funk-Essays, die dialogisch als Hörspiele angelegt sind, sind bereits seit einiger Zeit zugänglich; die tatsächliche Umsetzung hingegen war nur allzu selten zu hören. Bernd Rauschenbach, der zum Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung gehört, macht in einem kleinen beigegebenen Text nachvollziehbar, wie viel Zeit- und Radiogeschichte in diesen poetischen Portraits, die im Streitgespräch gezeichnet werden, aufgehoben ist: Der Schriftstellerkollege und Bewunderer Alfred Andersch wird 1955 Leiter der Redaktion Radio-Essay beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart. Umgehend bittet er den finanziell stets klammen Schmidt um seine Mitarbeit. Schmidt liefert pünktlich sein erstes Manuskript "Zum Gedächtnis Coopers", das prompt abgelehnt wird. Sein erstes Hörspiel behandelt schließlich den Hamburger Barockdichter Barthold Heinrich Brockes, in dessen neunteiligem Werk "Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in physikalisch- und moralischen Gedichten" Schmidt einen akribischen und "langsamen" Realisten wittert. Die Regie führt im Übrigen ein gewisser Martin Walser. Als Anderschs Redaktionsassistent wirkt zunächst Hans Magnus Enzensberger, auf den Helmut Heißenbüttel folgt.
Mit Heißenbüttel verbindet sich später ein zeitgeschichtlich aussagekräftiges, wenn auch unangenehmes Kapitel dieser fruchtbaren Zusammenarbeit. Die Probleme beginnen mit einem neuen Intendanten, der Andersch 1958 vor die Nase gesetzt wird, einem "schneidigen jungen cdu-abgeordneten" (Andersch). Schmidt, der vor Invektiven gegen die zeitgenössische Politik nie zurückschreckte, fürchtet, sein "letztes Stündlein - im wahrsten Nachtprogrammsinne" könne damit geschlagen haben. Annähernd kommt es auch wie befürchtet: Schmidts Funkessay "Belphegor" über den gleichnamigen Roman Johann Karl Wezels - ein Plädoyer für den "ehrwürdigsten Gott-, Welt- und Menschenhaß" (Schmidt) - kann Heißenbüttel laut Andersch wegen des "jungen, scharfen, dabei taktisch gerissenen Rechts-Katholiken" nicht "bringen". Der Hessische Rundfunk hingegen konnte das, weswegen auf der heutigen Sammlung von Aufnahmen wohl dieser Schmidt-Essay fehlt. In der Folge werden weitere Portraits von Heißenbüttel in vorauseilendem Gehorsam radikal gekürzt und zensiert, weshalb Rauschenbach zuweilen zur vergleichenden Lektüre rät. Diese bringt nicht nur Skandalöses zu Tage, sondern auch Heiteres: In Schmidts Essay über Ludwig Tieck ist von Poeten die Rede, die in "Elfenkreisen" verkehren; ein Versprecher rückt sie allerdings in "Elefantenkreise". Jedoch auch ohne diese Petitessen lohnt sich das aufmerksame Zuhören: Der 1979 verstorbene Schriftsteller liebte ebenso leidenschaftlich wie er hasste, weswegen seine Hörspiele stets subjektiv und ungerecht, aber immer kenntnisreich, humorvoll und unterhaltsam sind. Und wie viel ist in seinen Wieder-Entdeckungen von Klopstock, Moritz, Wieland, Meyern, Karl May, Dickens usw. für uns Heutige noch zu entdecken!
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