p0es1s - Digitale Poesie im Netz

Programm und Geschichte von www.p0es1s.net künden von einem anspruchsvollen Projekt

Von Friedrich W. BlockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedrich W. Block

"p0es1s" heißt ein Projekt zur Digitalen Poesie, das sich seit 1992 entwickelt hat. Ausstellungen, Symposien und Publikationen haben sich unter diesem Label mit einer Kunst beschäftigt, die sich den Bedingungen von Sprachgebrauch im Umgang mit Computer und digitalen Netzwerken widmet. Dabei wird unter Digitaler Poesie schöpferische, experimentelle, spielerische oder auch kritische Sprachkunst durch Programmierung, Multimedia, Animation, Interaktivität und Netzkommunikation verstanden. Diesem Ansatz folgt auch die Beteiligung von Wissenschaftlern und Künstlern verschiedenster Disziplinen, von der Literatur- bis zur Medienwissenschaft, von Schriftstellern bis zu bildenden Künstlern, die sich aber auch als Grenzgänger zwischen Medium und Disziplin verstehen. Auf www.p0es1s.net ist diese Vielfalt anschaulich dokumentiert; eingebunden sind zahlreiche künstlerische Arbeiten und theoretische Essays.

Sein oder Nichtsein - das ist die digitale als poetische Frage, denn Poesie, griechisch poiesis, lateinisch poesis, lässt sich als die Ursache dafür verstehen, "dass irgend etwas aus dem Nichtsein in das Sein übergeht", wie Diotima in Platons "Gastmahl" erklärt. Diesem Prinzip der Hervorbringung entspricht auch die elementare digitale Symbolik, die mit 0 und 1 das Nichtsein und Sein von Strom kodiert. Auf diesem binären 'Alphabet' beruhen die 256 Zeichen (Buchstaben, Zahlen, Steuerzeichen) des Standardcodes (ASCII), aus denen sich die Sprachen und Programmierungen im Computer wie auch jegliche damit erzeugte Bilder, Filme, Töne, Schriftzeichen bzw. die Verarbeitung und der Austausch von Informationen zusammensetzen (computieren). Mit dieser alphanumerischen bzw. sprachlichen Medialität, in die sich Formen individuellen, sozialen und kulturellen Wandels gegenwärtig in hohem Maße einprägen, geht digitale Poesie ästhetisch um.

Am Anfang der grenzüberschreitenden künstlerischen Zusammenarbeit stand die von André Vallias und F. W. Block organisierte Ausstellung "p0es1e. Digitale Dichtkunst" in Annaberg-Buchholz im Jahre 1992. Damals waren Künstler beteiligt wie Jim Rosenberg, Eduardo Kac, Richard Kostelanetz oder Augusto de Campos und andere, von denen viele auch noch zehn Jahre später mit neuen Arbeiten im p0es1s-Projekt vertreten gewesen sind.

Das Interesse der p0es1s-Macher entwickelte sich seinerzeit aus der künstlerischen und vermittelnden Beschäftigung mit aktuellen und wegweisenden Formen experimenteller Dichtung: Insbesondere die visuelle Poesie hatte Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre noch einmal Schubkraft entwickelt. Von daher wird Digitale Poesie bei "p0es1s" als eine Ausdifferenzierung der in sich vielfältigen Sprachkunst verstanden. In den 90er Jahren entwickelt sie dann insofern Genre- oder Gattungsqualität, als sie sich in einem internationalen Netzwerk selbst organisiert, zu dessen Säulen neben "p0es1s" etwa auch das 1993 von Loss Pequeño Glazier gegründete "Electronic Poetry-Center", Eduardo Kacs poetologische Anthologie zur "New Media Poetry" (1996) oder das von Roberto Simanowski herausgegebene Online-Journal "Dichtung Digital" (seit 1999) gehören. Gleichwohl finden sich die Anfänge digitaler Poesie bereits in den 50er Jahren, als sich die Sprachexperimente im Kreis um Max Bense auch mit Möglichkeiten der ersten Computer beschäftigten.

Der Start von "p0es1s.net" im Jahr 2000 erfolgte zunächst als reine Online-Ausstellung. Dem folgten ein erstes "p0es1s"-Symposion an der Universität Kassel und eine Ausstellung im Kasseler Kunsttempel. Die Veranstaltungen wurden in einem kleinen Katalog (Kassel 2000) und einem Tagungsband (Sonderband von Kodikas/Code, 2001) dokumentiert.

Jüngstes Ereignis im Projekt war die 2004 durchgeführte große Übersichtsausstellung im Berliner Kulturforum, kuratiert von Friedrich W. Block. Zur Ausstellung erschien ein Katalog in der literaturWERKstatt berlin sowie, herausgegeben von Block, Christiane Heibach und Karin Wenz, das zweisprachige Diskursbuch "p0es1s. Ästhetik digitaler Poesie" (Hatje Cantz), das auf ein internationales Symposion an der Universität Erfurt im Jahr 2001 zurückgeht.

Die Entwicklung digitaler Poesie bleibt vorerst dynamisch und daher unübersichtlich; insofern ist "p0es1s" allenfalls ein Ankerpunkt "auf hoher Seh in der Turing-Galaxis". Wo die Reise hingeht, bleibt glücklicherweise offen.

Friedrich W. Block leitet die Literaturstiftung Brückner-Kühner in Kassel und organisiert im Kontext seiner wissenschaftlichen Arbeit seit langem Ausstellungen und Veranstaltungen zur zeitgenössischen Poesie.