Domänenpächter und Gutsbesitzer

Mario Niemann versammelt Erinnerungen aus dem ländlichen Mecklenburg vor 1945

Von Manu SlutzkyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manu Slutzky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Mecklenburg gab es traditionell den Hof einerseits und das Dorf andererseits. Auf dem Hof lebten der Gutsherr und seine Familie nebst dem Gesinde, den Deputanten und den Saisonarbeitern, im Dorf die freien und selbstständigen Bauern. Letztere mussten keine Abgaben an die Gutsfamilien leisten, es sei denn, dass sie als Pächter einer Domäne dazu verpflichtet waren. Im Übrigen half man sich gegenseitig: Wer zuerst seine Ernte eingebracht hatte, zog freiwillig "up den Hoff", um auch die Erträge des Gutsherrn sichern zu helfen.

Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen für die Landbevölkerung dürften mitursächlich dafür sein, dass im vorliegenden Band in der Retrospektive kaum Konflikt- und Reibungspunkte zwischen Großgrundbesitzern und Kleinbauern, zwischen Saisonarbeitern und Tagelöhnern, meist Schnittern, bestimmt werden - die Grenzen verliefen anderswo. Als traumatisch hingegen wird der Einmarsch der Roten Armee erinnert: "mongolische Zuchthäusler in Uniform" hätten sich - vergewaltigend und mordend - bitter für Hitlers Russlandfeldzug und für die Verbrechen der deutschen Wehrmacht im Osten gerächt. So berichtet es Clärle Fuhr aus Pastow, die als Kind mit ansehen musste, wie junge Russen ihre Mutter verschleppten. In ihrem Bericht finden sich aber auch bemerkenswerte Sätze wie der folgende: "Meine Familie war gut informiert über die Verbrechen der Nazis an Juden und in den eroberten Gebieten." Die Mutter nämlich hörte heimlich den Auslandssender, und sie hatte rasch durchschaut, dass "der Bau der Autobahnen, die Einführung der Wehrpflicht und des Arbeitsdienstes und der Aufbau der Luftwaffe Kriegsvorbereitungen waren". Mit guten Freunden erörterte man die politische Lage, und auch wenn man sich zum offenen Bruch mit Hitler nicht entschließen konnte, so übte man doch, soweit es möglich war, "passiven Widerstand".

Man konnte also wissen, was von deutschem Boden ausging und was außerhalb Deutschlands geschah, und auch von den Kriegsverbrechen der Roten Armee hatte man frühzeitig Kunde. Viele Familien entschlossen sich zur Flucht in den Westen, zahllose Zivilisten und Soldaten, die sich nicht mehr rechtzeitig absetzen konnten, machten sich auf das Schlimmste gefasst oder brachten sich um. Auf dem Land hielt das Chaos Einzug: Viele Gutshäuser mussten geräumt werden und dienten den Kommandanten und ihren Stäben als Unterkunft. Das Vieh durfte nicht mehr gefüttert, die Kühe durften nicht mehr gemolken werden, nur vereinzelt gelang es noch, die Ernte einzubringen.

In 50 Zeitzeugenberichten von 51 Beiträgern entfaltet Herausgeber Mario Niemann ein Panorama des ländlichen Mecklenburg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu Wort kommen frühere Gutsbesitzer, Bauern und Domänenpächter beziehungsweise deren Nachfahren, ferner drei frühere Eleven, die in Mecklenburgs Landwirtschaft ihre Ausbildung erhielten, sowie ein ehemaliges Zimmermädchen, das auf zwei Gütern und einem Bauernhof beschäftigt war. Die meisten Autoren folgen dabei einem Fragenkatalog, der ihre Darstellungen vergleichbar macht und der die Komplexe Soziale Verhältnisse, Wirtschaftsführung, Politische Einstellung, Bodenreform und Vertreibung, Ankunft und Leben im Westen und gegebenenfalls Rückkehr in die alte Heimat umfasst. Mit der Bodenreform 1945 ging für die meisten Eigentümer, die der ritterschaftlichen ebenso wie die der Dominialbetriebe, eine Ära zu Ende: Ein Drittel der adligen Güter waren seit dem 18. Jahrhundert oder länger in Familienbesitz, 25 Güter waren seit 50 und mehr Jahren ununterbrochen von derselben Familie bewirtschaftet worden.

Dem Band kommt zugute, dass seine Autoren neben persönlichen Erfahrungsberichten auch Zeittypisches eingefangen und sich zum Teil als ausgesprochen findige und quellenkritische Historiker erwiesen haben. So konsultierten Hubertus Andreae und Inge Mencke den Lehnreport des Schweriner Staatsarchivs, um die Besitzverhältnisse von Gut Dudendorf zu rekonstruieren. Die erste urkundliche Erwähnung Dudendorfs ist hier ebenso zu finden wie die Bestimmung der geografischen Nähe zur Ostsee, 31 Meter über dem Meeresspiegel.

Das von den Autoren beigesteuerte Fotomaterial aus Familienbesitz trägt ein Übriges dazu bei, das Landleben anschaulich werden zu lassen. Eindrucksvoll unterstreicht eine Aufnahme der Silbernen Hochzeit von Gustav und Margot Asschenfeldt die Behauptung ihres Sohnes Kuno, dass "das Leben auf größeren Gütern [...] eher mit der Hofhaltung von Fürstlichkeiten" vergleichbar war: "Das Personal für die 'Gutsherrschaft? bestand mehr oder weniger aus ca. 10 Personen, darunter die 'Mamsell? mit Küchenmädchen, Hausmädchen, eine 'Jungfer? zur persönlichen Bedienung der Hausfrau, oft ein Diener und ein Kutscher. Dazu kam dann noch ein Gärtner, der oft auch Jäger und Förster war und eine Erzieherin (Lehrerin) oder ein Hauslehrer für die Kinder, solange sie noch nicht auswärts die Schule besuchten."

Als die NS-Zeit überstanden war und die Sowjetische Militäradministration das Sagen hatte, begann für viele erneut ein Leben im Widerstand: Einige Bauern stemmten sich mit allen Mitteln gegen die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und die Bodenreform, viele verloren ihren Kampf, und nur wenige kamen wie Bernhard Benckendorff in den Genuss einer späten Entschädigung.

Zahllose kräftige junge Männer verschwanden, oft auf viele Jahre, in sibirischen Arbeitslagern, andere ergriffen die Flucht oder verkrochen sich, einer - wie Claus Hoffmann erzählt - in einem Strohdiemen, den die Russen dann anzündeten. Manche, die hatten fliehen können, erhielten Entschädigungen aus dem Lastenausgleich, manche nicht einmal eine Aufenthaltsgenehmigung im Westen, da sie sich - wie von Bernhard Benckendorff zu erfahren ist - ihre Anerkennung als Flüchtlinge erst gerichtlich erstreiten mussten. Während Gisela Behm den Befehl zur Flucht vom Herrgott persönlich erhielt, entschieden Verwandte aus dem Westen über das Schicksal Clärle Fuhrs und ihrer Geschwister: Sie befanden, dass die Kinder der so genannten "Amerikanischen Zone" ein besseres Los gezogen hätten und verfrachteten sie kurzerhand nach Wiesbaden.

Krieg und Nachkrieg dominieren diesen Band, es gibt aber auch Anderes zu erzählen: Die Jagd war notwendiges Vergnügen, Geburten, epidemische Krankheiten wie Typhus und Todesfälle hinterließen ihre Spuren, die Dorfgemeinschaft richtete das traditionelle Schützenfest aus, übte den Einsatz der Freiwilligen Feuerwehr und verteilte Ehrenämter wie das des Schulzen (Bürgermeisters). Im "Hagelausschuss" wurden die Ernteschäden für die Versicherung taxiert, und gemeinsam plante man die optimale Nutzung der Dünge- und Erntemaschinen.

Der opulente Band, ein wichtiger Beitrag zur "oral history", ist nach "Mecklenburgische Gutsherren im 20. Jahrhundert" (2000) der zweite Sammeltitel, den Mario Niemann zusammengestellt, betreut und mit einem Vorwort versehen hat. Er bietet einen typischen Querschnitt durch das ländliche großagrarische Leben Mecklenburgs, berücksichtigt Berichte von Gütern und Domänen der unterschiedlichsten Betriebsgrößen und Pachtverhältnisse und dürfte nicht nur bei Historikern auf lebhaftes Interesse stoßen.

Titelbild

Mario Niemann (Hg.): Ländliches Leben in Mecklenburg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Ingo Koch Verlag, Rostock 2004.
916 Seiten, 46,80 EUR.
ISBN-10: 3937179178

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch