Grenzüberschreitende Honigkeiten

Friederike Mayröckers "Gesammelte Gedichte 1939-2003"

Von Indra NoëlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Indra Noël

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein "gebratenes Wort" ist in Friederike Mayröckers Gedichten kein Fremdkörper. Der Mond ist dort essbar, eine Stunde "fleischfarben", die Liebe "moosgrün". Sinneswahrnehmungen aller Art, Gedanken und Gefühle gehen ungewöhnliche Verbindungen ein. Auch die Sprachmaterie hilft dabei, verschiedenste Dinge zu assoziieren: "Orchideen Iden Ideen".

Eine umfangreiche Sammlung erstaunlicher Spracharbeiten kann nun entdeckt werden: Denn zum 80. Geburtstag, den Friederike Mayröcker am 20. Dezember 2004 gefeiert hat, sind alle bisherigen Gedichte der österreichischen Autorin in einem Band erschienen, viele davon zum ersten Mal. Schon ein einziger dieser vielschichtigen Texte bietet Stoff für seitenlange Analysen. Wie soll man da gleich 1037 Gedichte vorstellen, die außerdem nur einen Bruchteil von Mayröckers literarischem Gesamtwerk ausmachen (2001 verlegte Suhrkamp die Prosa der Autorin in 5 Bänden)?

Auf eine Besonderheit dieser Sammlung weist Marcel Beyer, Mayröckers junger Dichterkollege und Herausgeber der "Gesammelten Gedichte", in seinen editorischen Notizen hin. Er hat, dem Wunsch der Autorin folgend, die Gedichte chronologisch geordnet. Diese Anordnung, durch die die 'ursprüngliche' Einbindung der Gedichte in Zyklen und Gedichtbände unsichtbar wird, eröffnet Beyer zufolge "ein neues, so bisher nicht wahrnehmbares Geflecht von Bezügen".

In der Tat: Mit dieser Ausgabe sind nicht nur alle Gedichte zugänglich gemacht worden - einschließlich derer, die Mayröcker 2002 und 2003 nach ihren Texten für den Band "Mein Arbeitstirol" verfasst hat [vgl. die Rezension von Rolf-Bernhard Essig in literaturkritik.de 09/2003]. Es erschließen sich auch Einsichten, die ohne die von Beyer präsentierte Gliederung nicht möglich wären. Beim Vergleichen einzelner Gedichtbände nämlich kann der Leser den Eindruck gewinnen, Mayröckers Schreiben sei vor allem von stilistischen Umorientierungen und thematischen Brüchen geprägt. In ihren Gedichten treten klassische 'wie'-Vergleiche und Genitivmetaphern neben modernste Verfremdungstechniken. Der Leser findet traditionelle Liebesgedichte - die bewegendsten sind Mayröckers Lebensgefährten, dem 2000 verstorbenen Dichter Ernst Jandl, gewidmet -, surrealistische Naturbeschreibungen und Experimente, die an die sprachreflexiven Texte der Wiener Gruppe erinnern. Und erst die "Gesammelten Gedichte" lassen entdecken, in welchem Maße sich diese heterogenen Züge durchdringen. Wer den Texten in ihrer chronologischen Anordnung folgt, merkt, dass für eine Phase Typisches später nicht einfach verschwindet, und kann wellenartige Verschiebungen beobachten.

Schon früh entfernt sich Mayröcker von klassischen Formen. Ihre ersten beiden Gedichte aus dem Jahre 1939 nutzen Strophen mit Kreuzreim. Danach sind Endreime, abgesehen von ihrem gezielten Einsatz in einem Dutzend Aphorismen, Kinderliedern oder ironischen Texten, kein einziges Mal mehr zu finden. Mayröcker entwickelt andere Mittel, um vor allem Details aus dem Alltag, Landschaftsbeobachtungen, Träume und die Gefühle des Liebens und Trauerns zu verworten. Nach und nach werden Elemente in die Texte integriert, die über das Sprachmaterial nachdenken lassen. Experimentiert wird zum Beispiel mit einzelnen Wortteilen - "Ur-werk", "heli kopter maien käfer" - oder mit der Wortart: Die Morgensonne "astgabelt", dem Wort "nachtigallen" ist die Erklärung "(adj.)" beigegeben. Und schon in Gedichten der späten 50er und frühen 60er Jahre zeichnet sich ab, was bis heute prägend ist: Mitten im Satz endende Gedichte, Zitatsplitter, eine private Typografie ("Barfüszler-Buszgedichte") und der Dialog zwischen verschiedenen Sprachen, Sprechweisen und Themen. Liest man die Gedichte in zeitlicher Folge, sieht man, wie hermetische Züge mehrmals zu- und wieder abnehmen, wie härter gefügte Montagen langsam zu leichter verständlichen, erzählenden Gedichten überleiten und umgekehrt. Am spannendsten ist die subtile Verschmelzung von beidem, die Mayröcker in den meisten Texten gelingt. Interessant sind auch sparsam eingestreute poetologische Selbstkommentare, in denen der Leser sein eigenes Verwundertsein gespiegelt sehen mag:

wie (= als) Vivaldi ruderte / "radelte" / auf
dem Teich auf dem krummen gleiszenden Glanzpapier
nämlich auf Algen-, Zypressen Grund .. aus dem Humus
das Zünglein der Zöglinge (Pflanzenstock) : oder
ist das alles zu hermetisch?
- sollte ich lieber
schreiben : in seinem Bettuch das Brandloch von der vergessenen
Zigarette? ach ich weisz es gibt nichts zu GREIFEN BEGREIFEN

Überall ist bei Mayröcker die Suche nach dem Ungeläufigen zu spüren. Um sprachlich näher oder anders an die Dinge heranzukommen, reichen 'gewöhnliche' Wendungen nicht aus. Selbst da, wo die Wörter stilistisch nicht verfremdet werden, überraschen und irritieren sie. Mayröckers "Liebesspiel mit der Sprache" kennt keine logischen Grenzen, es sucht und findet "das zärtliche Durchwachsensein grenzüberschreitender Honigkeiten".

Dass diese sprachlich avancierte Lyrik eine starke Wirkung auf die jüngeren Autorengenerationen ausübt, ist nicht verwunderlich. In sprachreflexiven Gedichten österreichischer und auch deutscher Lyriker (wie beispielsweise Thomas Klings und Ulrike Draesners) ist ihr Einfluss spürbar.

Die "Gesammelten Gedichte" eignen sich für den Lyrik-Liebhaber, der Mayröckers Texte kennen lernen will, wie für den geübten Mayröcker-Leser, der hier eine gründlich recherchierte, mit Nachweisen ausgestattete Sammlung vorfindet.

Titelbild

Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte 1939-2003.
Herausgegeben von Marcel Beyer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
856 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-10: 3518416316

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