UJ3RK5 minus Wall und Gibson macht Graham

Dorothea Zwirner versucht dem vielschichtigen Wirken Rodney Grahams näher zu kommen

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Friedrich Christian Flick sich mit voller Wucht getroffen fühlt, wie er es in seinen einleitenden Worten zum ersten Band der von der gleichnamigen Stiftung herausgegebenen Künstlermonografien "Collector's Choice" beschreibt, dann muss schon etwas Gewichtiges vorgefallen sein. Flick beschreibt die Wirkung, die Rodney Graham auf ihn hatte, mit der Wucht der Kokosnuss, die in "Vexation Island" den Kopf des Filmprotagonisten attackiert. Nun ließe sich damit natürlich vieles erklären: Träfe ihn jede künstlerische Neuentdeckung mit der Wucht einer Kokosnuss, wer wollte sich dann noch über Flicks anhaltende Gedächtnisschwierigkeiten wundern? Aber so sehr man sich über die gesellschaftlichen Wirkungen seiner Kokosnüsse immer noch ausgiebig streiten kann, die Nüsse selbst sind - wie meist - auch in diesem Fall erlesen.

Rodney Graham sorgt allerdings nicht erst seit der venezianischen Biennale von 1997, wo ihn Flick für sich entdeckte, für Furore, er trat schon in den späten siebziger Jahren mit der mittlerweile sagenumwobenen Punkband UJ3RK5 aufs Parkett, zu der neben Graham auch Jeff Wall, Ian Wallace und William Gibson gehörten. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis er es seinen ehemaligen Kollegen aus Vancouver nachtun konnte und als "später" Künstler zu einem der spannendsten und auch bekanntesten zeitgenössischen Video/Installation/ Foto/Musik ...-Produzenten wurde.

Die vorliegende Publikation wartet mit einem Essay Dorothea Zwirners und einem umfangreichen Bildteil samt Kommentierungen Grahams auf. Die Beiträge Grahams zu seinen Werken sind zahlreichen älteren Katalogen und Magazininterviews entnommen, aber auch zum Teil eigens im Kontext der aktuellen Ausstellung der Flick Collection entstanden. Der Neuigkeitswert dieser Anmerkungen ist allerdings schon auf ein Minimum geschrumpft, wenn man zuvor bereits den Aufsatz Dorothea Zwirners gelesen hat, der sich, neben einigen Rekursen vor allem auf Boris Groys' und Jeff Walls Einschätzungen zu Graham, ganz zentral auf des Künstlers eigene Erklärungen stützt. Zwirner versucht aber darüber hinaus eine Strukturierung der Werkentwicklung Grahams zu leisten. Neben ganz offensichtlichen Kategorien, wie dem szenischen Loop oder den literarischen Neufassungen, die Grahams Ruf als postmodernen Künstler konstituieren, zählt Zwirner die Formen der Wahrnehmung, Wege der Erleuchtung, musikalische Aneignungen und fotografische Selbstreflexionen zu den Meilensteinen in Grahams Œuvre. In allen Stationen und Werkgruppen agiert Graham, wie Zwirner ähnlich den meisten Kommentatoren seines Schaffens konstatiert, als Flaneur der Moderne. Schweifend zieht er seine Kreise, erzählt die Geschichte der Moderne noch einmal, aber anders, nämlich an verborgenen Details entlang. Auch die Analogie zu Marcel Broodthaers liegt da natürlich sehr nahe, der eine ähnliche Reiseroute absolvierte und in seinem verhaltenen Humor und Bezugsreichtum für einen Vergleich sehr zugängliche Methoden der Verarbeitung der westlichen Geistesgeschichte entwickelte. Zwirner möchte Graham aber mit Boris Groys weder des affirmativen noch kritischen Zugangs zur Moderne zeihen, sondern setzt dem die kuriose Kategorie des Originellen entgegen. Dass einen Absatz später die Haltung doch eher als melancholisch erfahren wird, scheint dabei keinen Widerspruch zu erzeugen.

Die Eröffnung der Diskussion um Grahams Werk findet statt in Form einer Analyse der umgekehrten Baumbilder, die Graham in mehreren Serien produzierte. Zwirners These, diese Bilder würden die menschliche Sehnsucht nach Unmittelbarkeit und Eindeutigkeit reflektieren sowie mit dem Verlangen nach unverstellter Naturerfahrung korrespondieren, das die verstellte kulturelle Vermittlung verdrängt, wird plausibel erläutert. Zu zeigen, wie man tatsächlich "sieht", bevor das Gehirn interveniert, kann in diesem Zusammenhang geradezu als begehrte Wahrnehmungsstörung gelesen werden. Weniger als Wahrnehmungsstörung denn als kritische Wahrnehmungsschärfung können indes Erzeugnisse wie "Two Generators" interpretiert werden. Jener, die illusionistischen Mechanismen des Kinos offen legender Film knüpft beinahe an die Apparatus-Theorie Baudrys an, wenn man sich die avantgardistische Form der Selbstreferenz als Hintergrund der Arbeit denkt. In Grahams Literaturexkursionen werden zwei Umgangspraxen ausgemacht: Zum einen gibt es einen neuen Zugang in das Innere von ausgewählten Erzählungen. Durch kleinste Eingriffe in den bestehenden Text werden neue Bezüge hergestellt, die Erzählungen der Moderne in unzähligen Details neu entdeckt und weitergesponnen. So kann Büchners "Lenz" unter den Fingern Grahams auch mal schnell partikular geloopt und zur 336 Seiten starken, kreisförmigen Irrbewegung im Wald werden. Zum anderen gibt es in einer an Donald Judd gemahnenden zweiten Verarbeitungsform die Produktion von Schubern, Regalen, Ständern für ausgewählte Bücher, die sich zu skulpturalen Objekten synthetisieren. Es handelt sich also um eine Annäherung von außen, bei der die Erzählung zwar im Buch verschlossen bleibt, aber in einer Visualisierung der textuellen Strukturen in den Skulpturen kommuniziert wird. Die sich mit Fragen der Zeitlichkeit auseinander setzenden Arbeiten "Parsifal" und "School of Velocity" werden kontextualisiert mit dem Zeiterleben des Melancholikers, der seine "Ich-Zeit als quälenden Stillstand gegenüber dem beschleunigten Fortschreiten der allgemeinen Zeit erfährt". So lässt sich für Zwirner auch die Fotoserie zu Kurt Cobains Heimatstadt Aberdeen mit diesem Aspekt des Verspätens und des Scheiterns verbunden lesen. Graham agierte in der Rolle des verspäteten Fans im Jahr 2000, also sechs Jahre nach Cobains Suizid. Seine Bezüge zur amerikanischen Popkultur, die ihn zu eigenen Performances als 'Ramblin' Man' trieben, deutet die Autorin als weiteren Weg bei der Suche nach der eigenen Stimme, die als Metapher für die Suche nach dem verlorenen Paradies stehen soll. Etwas zu kurz kommen hier der sehr starke ironische und humoristische Impuls, mit dem Graham seine gesamten musikalischen Experimente betreibt. Dass Graham bei seiner Wagnerverfremdung ähnliche Motive getrieben haben könnten wie Christoph Schlingensief bei seiner Wagner-Rally im Rahmen der Ruhrfestspiele 2004 - erinnert sei an den Ausspruch: "Wir bringen Wagner zurück auf die Straße" -, nämlich eine Entzerrung und spielerisch-witzige Loslösung der Stücke vom Pathos und der Schwere Wagners, kommt Zwirner nicht in den Sinn. Stattdessen viel Melancholie. Nachvollziehbar wird diese Betonung allerdings in der Erläuterung des als neuralgisches Werk durch das Buch geisternden Videos "Vexation Island". Hier wird die durch Schiffbruch auf einer einsamen Insel gestrandete Robinson Crusoe-Figur zum Sisyphus. Während es Crusoe gelingt, seine melancholische Niedergeschlagenheit durch das Tätigwerden zu überwinden, wird er bei Graham gerade dadurch von neuem niedergeschlagen. Dies als Metapher des intellektuellen Denkens im Sinne Wolf Lepenies zu lesen, der Melancholie, Utopie und Ende der Utopie als Kreislauf eben dieses Types entwirft, macht Sinn. Der Romantik und Melancholie sehr eng verbunden, übertreibt es die Autorin allerdings bei der Konzentration auf diesen Aspekt im Wirken Grahams. Obwohl sehr präsent in einigen seiner Produkte, so z. B. auch besonders im Video "Halcion Sleep", das mit Kindheitserinnerungen und Film Noir-Anspielungen operiert, ist diese interpretatorische Reduktion unnötig.

Indes findet Friedrich Christian Flick einen schönen Schluss seiner begleitenden Worte, wenn er Gottfried Benn mit dem Satz "Es kommt darauf an, mit den Beständen zu rechnen" zitiert, und in der Folge Graham als den großen Rechner bezeichnet, der er in diesem Sinne fürwahr ist.

Titelbild

Dorothea Zwirner: Rodney Graham.
Herausgegeben von der Friedrich Christian Flick Collection.
DuMont Buchverlag, Köln 2004.
175 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3832174052

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