Beute oder Belebung

Die europäische Stadt einmal mehr in der Diskussion

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hartmut Häußermann ist einer der profiliertesten Stadtsoziologen und hat sich dem Projekt der Rettung der "europäischen Stadt" oder zumindest dem, was man als charakteristisch für diese Organisationsform hält, verschrieben. So nimmt es nicht Wunder, wenn Walter Siebel, sein langjähriger Forschungspartner und Mitstreiter, ihm anlässlich seines Geburtstages einen Band zur Diskussion der "europäischen Stadt" widmet.

Die Position, die beide in der Diskussion um die Verfasstheit und die Zukunft der Städte des Okzidents einnehmen, ist eine defensive, sozialstaatlich motivierte und dem Mythos der "europäischen Stadt" häufig zuarbeitende Position. Mit dieser Haltung müssen sie sich gleich an mehreren Fronten engagieren, da sie sowohl von links als auch von rechts erheblichem Gegenfeuer ausgesetzt ist. Die erwünschte Stadt - und damit gleichsam die erwünschte Gesellschaft - erweist sich hier als enorm umkämpftes Terrain, was vor allem klar wird, wenn man sich die neoliberalen Gegner der klassischen Stadtkonzeption vergegenwärtigt. So wie Siebel es in seinem Einführungsaufsatz zur Grundtypologie der europäischen Stadt zählt, dass sie eine kommunal regulierte, Ungleichheiten harmonisierende, politisch kollektive und damit integrative, emanzipatorische, gleichsam ordnende Kraft sei, so ist gerade diese Idee einer den Kapitalismus zähmenden Stadt weniger denn je gefragt. Allenthalben steht der Rückzug der Kommunen aus der Lenkung und Regulierung der Stadt auf den Agenden, und eine rein marktförmige Organisation der Stadt ist keine reine Dystopie mehr, sondern längst zu großen Teilen umgesetzt.

Nun ist es unter den Verteidigern einer öffentlich und sozial orientierten Stadtplanung üblich, die Vorstellung einer moderaten Moderne, verkörpert vom Modell der europäischen Tradition, von der radikalen Moderne abzusetzen, die sich in der "amerikanischen Stadt" durchgesetzt haben soll. Die soziale Verantwortung und Integrations- wie Identifikationsfähigkeit gehe US-amerikanischen Städten völlig ab, da sie von jeher eine ungeschminkte kapitalistische Verwertungslogik zur einzigen Grundlage ihrer Verwaltung gemacht haben. Eine Amerikanisierung, die auch von den postfordistischen Ökonomien Europas gewollt ist, wird daher als die große moralische und soziale Gefahr für die zivilisatorische Leistung Europas und für seine Städte entworfen. War diese Position, in den unregulierten Städten der USA, Asiens und des "Südens" eine apokalyptische Vision voll Massenarmut, Rassenhass, Abfall- und Verkehrschaos zu sehen, lange Jahrzehnte Konsens, ist nun allerdings eine Wende in der Wirtschaft und den staatlichen Institutionen festzustellen. Es gibt eine anerkennende Beschäftigung mit selbst organisierenden Einheiten in den Metropolen des Südens, die beweisen, wie individuelle Überlebensstrategien und kollektive Selbstorganisation in Zeiten sozialer Krisen aufgrund der Demontage des Wohlfahrtsstaates funktionieren können. So ist der informelle Sektor, der die europäischen Städte längst erreicht hat, als eine Art "Schockabsorber der Globalisierung" zu verstehen, der die Subsistenzsicherung der urbanen Haushalte sicherstellt, wie Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf unlängst konstatierten. Die Vernunft und Zivilisiertheit der europäisch-kapitalistischen Stadt hat man sich wohl anders vorgestellt.

Zumindest einige angenommene Charakteristika der "europäischen Stadt", Heterogenität und Durchmischung, werden in der Publikation "Die Europäische Stadt" auch zu Prinzipien der Bearbeitung des Themas erhoben. Wer vermutet hätte, hier mit der Kohärenz und argumentativen Einigkeit konfrontiert zu werden, wie man es bei Häußermann/Siebel-Veröffentlichungen zu diesen Themen gewohnt ist, wird überrascht. Der Umstand, dass zu diesem Buch über 30 Autoren beigetragen haben, gewährt eine überaus große Spannbreite an Thesen. So sind auf der einen Seite Autoren vertreten, die sich ganz 'siebelianisch' sehr besorgt um den Niedergang der Tugenden der "europäischen Stadt" kümmern. Marco Venturi etwa sieht eine gefährliche Verschiebung der symbolischen Werte der Stadt im Gange, wenn man sich vor Augen führt, wie wenig Bedeutung repräsentativen Gebäuden öffentlicher Institutionen wie Krankenhäusern, Schulen und sozialem Wohnungsbau entgegengebracht wird im Vergleich zu Orten bürgerlichen Stolzes wie Museen, Banken und Orten mit hohem Publikumsaufkommen wie Einkaufszentren und Flughäfen. "Von Orten der Integration zu Orten der Segregation, vom sozialen Wohnungsbau hin zu seinem frontalen Gegenüber, der privaten und nicht geplanten Stadt", dies ist Venturis unvorteilhafte Analyse. Sie wird kausal verknüpft mit Annahmen über einen Konvergenzdruck durch Global Cities (Peter Marcuse) oder mit New Public Management Vorgaben, die als zentrale Forderung den Rückzug der Kommunen und des Staates auf die Kernfunktionen eines "lean state" beinhalten (Hellmut Wollmann). Diese eigentlich positive Bezugnahme auf Sozialstaat und öffentliche Steuerung der Stadtplanung wird allerdings durch die ewig homogenisierende und essenzialisierende Konstruktion der "europäischen Stadt" etwas geschmälert. Die diametrale Konstruktion der amerikanischen Stadt kann man fast schon als urbane Version des Antiamerikanismus bezeichnen, wie es Phillippe Genestier tat. Nicht immer sind alle negativen Veränderungen auf die Diffusion amerikanischer Eigenschaften zurückzuführen, wie einige romantisierende Europäer es gerne hätten. Hier fallen die Aufsätze von Gestring/Polat/Janßen sowie Strom/Mollenkopf angenehm auf, die ein sehr differenziertes USA-Bild entwerfen und keinen Platitüden über ein polares Verhältnis der Städteformen erliegen.

Negativ fallen dagegen Ansätze auf, die genau ins Horn des politischen Mainstreams blasen und eine neue Architektur des Staates ohne Vergesellschaftung und 'Sozialtand' fordern. So irritiert ein Text von Karl-Dieter Keim, der sich darüber Gedanken macht, wie man das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit und stabiler Orientierung überwinden kann, um endlich auf der individuellen Ebene einer städtischen Kreativität zum Aufschwung zu verhelfen. Kreativ sein können und sollen nun alle, denn ohne schöpferische, unternehmerische Aktivität des Einzelnen sieht Keim schwarz für eine Regenerierungspolitik krisengeschüttelter Städte. Das sind allerdings die Ausnahmen in diesem doch eher einem zivilisierten Kapitalismus anhängenden Spektrum. Eine interessante Debatte entspinnt sich auch an der zunehmenden selektiven Reaktivierung "europäischer" Stadtpotenziale, die vor allem hinsichtlich des Stadtdesigns relevant ist. So wird der "Städtebau in der postfordistischen Gesellschaft", wie es eine andere Publikation zum Thema beschrieb, nach der Abwendung von funktionalistischem, fordistischen Bauen zu Funktionsmechanismen der "europäischen" Stadt zurückkehren. Diese Neubewertung von Dichte, Durchmischung, Verknüpfung, face to face-Kommunikation, Arbeitskräftepools und Kulturtradition führt zu einer hochgradigen "embeddedness" der Branche der neuen Medien in einen städtischen Kontext. So kommt also der in der klassischen europäischen Stadt kristallisierte Geist, die Ablagerung historisch akkumulierten Wissens, die flexible, mulitifunktionale Kleinteiligkeit durch gewandelte ökonomische Bedürfnisstrukturen zu neuen Ehren.

Dass die Wiederbelebung der europäischen Stadt, der Bürgerstadt, aber auch als reine Marketingstrategie zur Revitalisierung der Innenstädte durch einkommensstarke Bevölkerungsgruppen interpretiert werden kann, die Verdrängung und Ausgrenzung produziert, wird allerdings nur am Rande erwähnt. Man kann in diesem Kontext nämlich auch besorgt zur Kenntnis nehmen, dass die Neubewertung des kulturellen Kapitals der Städte als wichtigste Ressource und produktive Investition ebensolche unangenehmen Implikationen produziert. Die sich mit eben jenen postfordistischen Anforderungen auch einstellende Inszenierung der alten europäischen Stadt als historische Kulissenlandschaft und ihre Entdeckung als Erlebnisindustrie, in der Konsum und Identitätsbildung organisiert werden, ist ebenso von dieser Rahmung beeinflusst und kann als die weniger schöne Seite der Umorientierung im städtischen Raum bezeichnet werden. Dass man heute urbanen Lebensstil, der sich positiv auf Kultur und Geschichte bezieht, im Rahmen einer Erzählung vom Postindustriellen gut verkaufen kann, ist dabei nicht verwunderlich, da es eine Identitätsstrategie geworden ist, sich durch gehobenen Konsum und Lifestyle in diesen Räumen festzusetzen. Solche Themen sind noch am ehesten in den Händen von Walter Siebel gut aufgehoben, der diese Tendenzen in seinen Beiträgen teilweise kritischer aufarbeitet als die eingeladenen Autoren.

Titelbild

Walter Siebel (Hg.): Die europäische Stadt.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
480 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3518123238

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch