Geschichte des Imaginären

Steffen Seischab stellt den großen französischen Historiker George Duby vor

Von Florian FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

George Duby (1919-1996) war einer der herausragendsten Repräsentanten der Annales-Schule und erforschte insbesondere die kollektiven Mentalitäten des Mittelalters. Wichtiger als die "großen Persönlichkeiten" waren ihm die Durchschnittsmenschen. Sein Interesse erregten vor allem die Nichtübereinstimmungen zwischen den materiellen Strukturen und den Geisteshaltungen, die Kluft zwischen dem Verhalten der Menschen und den Wertsystemen: "Denn die Menschen richten ihr Verhalten nicht nach ihrer tatsächlichen Stellung, sondern nach dem Bild, das sie sich von ihr machen, was jedoch nie ein getreues Abbild ist." Dabei galt Dubys größte Aufmerksamkeit stets dem, was verschwiegen wird. Er suchte nach "enthüllenden Begriffen", der "Art, wie die Vokabeln miteinander verbunden sind", um so "das unbewusste Bild, das eine bestimmte Gruppe in einem gegebenen Augenblick von sich selbst hat" zu erforschen.

Daher auch das starke Interesse für die Kunst, welche Duby immer wieder für seine Arbeit als Historiker fruchtbar machte. "Alle figurativen Gegenstände, die Struktur der Bauwerke, ihr Dekor und die vielen in Stein gehauenen oder gemalten Bilder" stellten für Duby ein "Quellenmaterial ersten Ranges" dar. Duby setzte so innerhalb der Mentalitäten-Fraktion der Annales-Schule einen eigenen Akzent. Nicht nur als begnadeter Stilist, sondern auch, weil er der Historiografie völlig neue Gegenstände erschloss - wie z. B. kirchliche Urkunden, anhand derer er auf beeindruckende Weise dem Zusammenhang zwischen den Verwandtschaftsverhältnissen und der dynastischen Geisteshaltung der Oberschicht nachspürte. Duby, schon zu Lebzeiten legendär, avancierte im Alter sogar zu einem regelrechten Medien-Star-Historiker.

Steffen Seischab versucht Dubys Selbstbild zu rekonstruieren und will gewissermaßen die Methode des Meisters auf diesen selbst anwenden. Ihn interessiert daher weniger, wie Duby war, als wie er sich selbst gesehen hat. Gleichwohl steht er z. B. den Erinnerungen Dubys durchaus kritisch gegenüber. Trotz der mittlerweile doch recht umfangreichen Literatur über Duby ist Seischabs Buch eine empfehlenswerte deutschsprachige Einführung zu diesem wichtigen Historiker, der gerade hierzulande leider immer noch viel zu unbekannt ist.

Seischab, der in Freiburg und Paris Geschichte studierte, ist ein intimer Kenner der personellen Konstellationen und der Wissenschaftsgeschichte im Allgemeinen. Gerade indem er Dubys Verhältnis zu seinen Kollegen minuziös nachzeichnet, entsteht ein dichtes Bild von Jahrzehnten französischer Historiografie. Dabei kommen trotz der etwas ausführlichen biografischen Beschreibungen auch die theoretischen Aspekte nicht zu kurz. Das Buch wird ergänzt durch ein Interview mit dem Gallimard-Cheflektor und Herausgeber der historisch-politischen Zeitschrift "Le Débat" Pierre Nora und ein Nachwort von Jacques Le Goff.

Titelbild

Steffen Seischab: Georges Duby. Geschichte als Traum.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2003.
190 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3931659577

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