Erotisches Jahrbuch mit Tradition

"Mein heimliches Auge" Nummer XIX

Von K. FranzRSS-Newsfeed neuer Artikel von K. Franz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Frauen & Pornographie" - unter diesem Titel erschien 1988 eine Extraausgabe des "Konkursbuchs", jener "Zeitschrift für Vernunftkritik", die seit den späten siebziger Jahren in namentlicher Distanz zum "Kursbuch" zeitgeistsymptomatisch über die Konkurse der modernen, aufgeklärten Vernunft aufklärte. Die Herausgeberin und Verlegerin Claudia Gehrke reagierte hier auf die Antipornografie-Kampagne der Zeitschrift "Emma" und eröffnete das Heft mit einem klugen, programmatischen Beitrag zum Thema. Nachdrücklich betonte sie die Unterschiede zwischen Fantasie und Realität, Bild und Wirklichkeit, Spiel und Ernst. Und sie setzte auf das kreative "Potential, das gerade darin liegt, mal einige Minuten lang wenigstens nicht zu wissen, was gut ist, was schlecht, mal einige historische Minuten lang keine Normen zu haben, die den 'Wert' des kreativen Produkts festlegen." Eine Kronzeugin war für sie Susan Sontag mit ihrem damals berühmten Aufsatz von 1967 über pornografische Fantasie.

Pornografie von und für Frauen? Dass Pornografie, die von Frauen geschrieben oder inszeniert wird, Leserinnen Besseres zu bieten hat als die Pornografie-Produktion von Männern wurde von Pornografiekritikerinnen vielfach bezweifelt. Das biologische Geschlecht verhindere nicht, dass Frauen männliche Blickweisen und Darstellungsstandards verinnerlichen oder unter hohem Anpassungsdruck übernehmen. "Diese im Grunde zutiefst resignative Auffassung, daß alles so durchsetzt sei von diesen die Opferrolle festschreibenden Bildwelten, daß keine eigenen Bilder mehr möglich seien, zementiert diese Opferrolle." So kommentierte Claudia Gehrke diese Argumentationsweise. Aus der angeblichen Kolonialisierung von Frauenköpfen durch die Macht der Männerfantasien hatte Elfriede Jelinek in "Lust" die literarische Konsequenz gezogen, keinen pornografischen Roman zu schreiben, sondern eine antipornografische Karikatur davon, bei dessen Lektüre den Lesenden die sexuelle Lust vergeht. Gehrke zieht seit vielen Jahren eine andere Konsequenz: die "Produktion eigener Bilder" auch "auf die Gefahr hin, nicht anders zu sein."

Der Erotik hat sich die Publizistin und Verlegerin erstmals mit der "Nummer sechs" ihres "Konkursbuchs" ausdrücklich verschrieben. Es erschien 1979. Drei Jahre später verlegte sie die erste Nummer eines Jahrbuchs der Erotik: "Mein heimliches Auge". Die zweite Folge ließ bis 1985 auf sich warten. Seither erscheint das "Heimliche Auge" regelmäßig und hat es inzwischen auf neunzehn Bände gebracht.

Wenn es ein Programm dieses Jahrbuchs gibt, dann ist es eine programmwidrige "Vielfalt". Nicht jede(n) kann alles darin ansprechen, aber jede(n) etwas. Es ist ein Buch für Männer und für Frauen, für Jung und Alt, für Lesben wie für Schwule, für Heteros und Bisexuelle. Es ist eine Text- und Bild-Collage unterschiedlichster Spielarten der Sexualität und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten. Was Freud in seinen Vorlesungen an der frühkindlichen Sexualität und Lust so anschaulich und nicht ohne Sympathie als "polymorph pervers" beschrieben hat, findet hier in den Fantasien und inszenierten Bildern der Erwachsenen seine Wiederkehr. Gehrke vergleicht denn auch in ihrem Vorwort die pornografische Fantasie- und Bilderwelt der Erwachsenen mit der Märchenwelt der Kinder. "Die Kindern zugestandene Erregung ist: Gruseln. Das erzeugen Märchen, das mögen Kinder. Und sie wissen: das ist ein Märchen, also nicht wahr." So gelte auch für die "manchmal bösen Märchen" dieses Buches: "Die Unterscheidung zwischen Kunstwelt und Realität bleibt wichtig."

Die Erzählungen (selten langweilig), Essays (oft lesenswert), Gedichte (meist verunglückt) und Gespräche (über die "Große Liebe") stammen zum größeren Teil von Frauen (Alter: 18 bis 80), die Aktfotografie ist auch hier immer noch eine Domäne der Männer. Die visuelle Präsenz von Penis und Vagina hält sich etwa die Waage. Polymorph an dem Jahrbuch ist nicht zuletzt das Niveau der Texte und Bilder. Literarisch und künstlerisch Ambitioniertes steht hier neben purem Dilettantismus, avantgardistische Inszenierung neben blumigem Kitsch. Beiträge von namhaften Autoren wie Juli Zeh (erhellend über Liebe in Zeiten der Individualisierung) oder Ulrich Holbein (langatmige Masturbationswitzeleien) finden sich neben denen von Debütanten. Die spielerische Gewitztheit einer Paulina Schulz oder Dörte Herrmann hebt sich wohltuend von den schwül-(post-)pubertären Männerdampfbad-Fantasien eines "Dr. Rainer Vollath" ab.

Das "Heimliche Auge" sei ein Nachtbuch, meint Claudia Gehrke in ihrem Vorwort und macht Andeutungen über den nächtlichen Prozess, in dem es gestaltet wurde, über das Glück konzentrierter Ruhe und auch über das gelegentliche Unbehagen an dem zur Auswahl verfügbaren Material. Den Leserinnen und Lesern wünscht sie "viel Leselust und Schaulust" und "einige Rauschnächte". Ob diese Wünsche in Erfüllung gehen, wagen wir hier nicht zu prognostizieren.

Titelbild

Claudia Gehrke / Uve Schmidt: Mein heimliches Auge. Das Jahrbuch der Erotik XIX.
Herausgegeben von Claudia Gehrke und Uve Schmidt.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2004.
296 Seiten, 15,50 EUR.
ISBN-10: 3887691903

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