Gerechtigkeit um jeden Preis

Christoph Heins Roman "In seiner frühen Kindheit ein Garten"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schriftsteller und Dramatiker Christoph Hein, der als Intendant des Deutschen Theaters in Berlin vorgesehen war und nach heftiger Kritik am Jahresende dann seinen Verzicht erklärte, hat in seinem neuen Roman auf eine authentische Rahmenhandlung zurückgegriffen. Es geht um die nie restlos geklärten Todesumstände des RAF-Mitglieds Wolfgang Grams, der 1993 auf dem Bahnhof im mecklenburgischen Bad Kleinen bei der Aktion eines Sondereinsatzkommandos ums Leben kam.

Grams heißt im Roman Oliver Zurek (beide sind in Wiesbaden aufgewachsen), seine später zu lebenslanger Haft veurteilte Lebensgefährtin Birgit Hogefeld taucht als Katharina Blumenschläger auf. Christoph Hein bemüht sich nicht, die Analogien zu kaschieren, wenngleich er keine Dokumentation, sondern eine fiktive emotionale Bestandsaufnahme aus der Perspektive von Zureks Eltern liefert.

In seinem im letzten Jahr erschienenen Essayband "Aber der Narr will nicht" hat Christoph Hein von den Intellektuellen gefordert, "gegen den Konsens der Zeit und gegen den allgemeinen Konformismus mit der Macht und den Mächtigen" zu kämpfen. Richard Zurek, der Vater des zu Tode gekommenen RAF-Mitglieds, verkörpert diese Maxime in Reinkultur. Der pensionierte Oberstudiendirektor und dessen Ehefrau Rieke streiten - den vorverurteilenden Schlagzeilen der Boulevardpresse ("Die Mutter eines Monsters") zum Trotz - um die restlose Aufklärung des Falles. Ein Minister trat zurück, der Generalbundesanwalt wurde in den Ruhestand versetzt - für die Zureks mehr als nur Indizien dafür, dass ihr Sohn weder einen Beamten erschossen noch sich selbst das Leben genommen hat. Wie im authentischen "Fall Grams" werden entlastende Zeugen jedoch als unglaubwürdig bezeichnet.

Christoph Heins Sympathie gilt Zurek senior, der sich auch durch einen drohenden Familienkrach nicht von der vollständigen Aufklärung abhalten lässt. Tochter Christin, eine gefühlskalte Oberstudienrätin, und ihr karrieresüchtiger, am Neuen Markt wirkender Ehemann Matthias drohen mehrmals mit einem Kontaktabbruch. Während Vater Zurek sich Gedanken über mögliche eigene Versäumnisse in der Erziehung macht, hatte die Tochter ihren zwei Jahre jüngeren Bruder und einstigen Spielkameraden schon lange vor dessen Tod emotional abgehakt und gebrandmarkt ("Da hat er uns was Schönes eingebrockt.").

Wie der in gutbürgerlichen Kreisen aufgewachsene Oliver Zurek auf Abwege geriet, warum er zehn Jahre in der Illegalität lebte und einer terroristischen Vereinigung nahe stand: dies sind die reizvollsten Fragen, die Christoph Heins Roman offenbart. Je mehr man während der Lektüre aus den Rückblicken über den Getöteten erfährt, umso stärker festigt sich das Bild eines völlig introvertierten jungen Mannes, der als Kind schon alle möglichen Dinge im Garten geheimnisvoll vergraben hat, und den seine Eltern erst aus den hinterlassenen Tagebüchern kennen lernen. Das Umschlagbild zeigt uns einen Knaben, der mit Schwung von der Schaukel abspringt und zu einem Fall ins Ungewisse ansetzt.

So wie beim realen Grams werden etliche Prozesse geführt und umfangreiche Gutachten angefertigt, die die offizielle Darstellung des Mordes an einem Einsatzbeamten und der anschließenden Selbsttötung in Frage stellen. Wie Don Quichotte kämpft Richard Zurek gegen die Windmühlen der Justiz und verliert immer stärker den Glauben an die Gerechtigkeit und an seine einstigen Ideale: "Ich habe ein Leben lang meinen Schülern Dinge beigebracht, die völlig unsinnig sind."

Da ihm die volle Rehabilitierung seines Sohnes nicht gelingt, schreitet er in der Aula seiner einstigen Schule zum großen symbolischen Akt - ganz nach Brechts "Galilei": "Wenn die Wahrheit zu schwach ist, sich zu verteidigen, muß sie zum Angriff übergehen." An dieser Stelle hat der Dramatiker Christoph Hein allerdings einen allzu idealistischen Plot gesetzt: Der alte Zurek widerruft vor versammelter Schüler- und Lehrerschaft seinen auf die Verfassung abgegebenen Amtseid. Selbstaufgabe um der vermeintlichen Gerechtigkeit willen - das wirkt selbst im Schiller-Jahr nicht besonders überzeugend.

Christoph Hein hat die Figur des Richard Zurek allzu sehr vereinnahmt und ihr dadurch jegliche Eigendynamik geraubt. Der Vater als Gerechtigkeitsfanatiker, der in Nibelungentreue an die Unschuld seines Sohnes glaubt, den er zehn Jahre lang nur durch Fahndungsfotos zu sehen bekam? Man hätte sich von Christoph Hein, der zuletzt mit "Willenbrock" und "Landnahme" uneingeschränkt überzeugte, ein wenig mehr Ambivalenz in den Figuren gewünscht.

Titelbild

Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit ein Garten. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
272 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3518416677

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