Von Todesfesten und Höllenfahrten

Isabel Platthaus beleuchtet die Unterwelten der Moderne

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Unterweltsreise als Allegorie des Erzählens begegnet an vielen Orten in den Texten der ästhetischen Moderne. Thomas Mann etwa frönt ihr mit erheblichem Lustgewinn: Bereits der "Tod in Venedig" wimmelt von Hades-Führern: der Fremde am Nordfriedhof, der Fahrscheinverkäufer auf dem Schiff nach Venedig, der alte Stutzer, der Gondoliere, der Straßensänger, der Liftführer, der Friseur und vor allem der polnische Knabe Tadzio, dem Gustav von Aschenbach in rauschhafter Ekstase verfallen ist. Während an der Oberfläche des Textes ein alternder Künstler sich in einen hübschen Knaben vergafft und an der Cholera stirbt, öffnet die Leitmotivik des Textes den Blick auf dessen mythische Tiefenfläche, die vom Sieg des Chaos über die Ordnung, der Formlosigkeit über die Würde, der Todesfaszination über die Bürgerlichkeit, des Dionysos über Apollo kündet. Tadzios Voranschweben am Ende der Erzählung "ins Verheißungsvoll-Ungeheure", die Transgression der "asiatischen Krankheit" über Venedig als den Schwellenort zwischen Europa und Asien hinaus, lässt sich insgesamt als epische katábasis in die Hölle der Moderne am Vorabend des Ersten Weltkriegs lesen. Doch damit nicht genug: Auch der ursprünglich als "Satyrspiel" zur Venedig-Erzählung geplante "Zauberberg" wimmelt von Allegorisierungen der Unterwelt. So wird das Sanatorium zwar ganz realistisch beschrieben, ist aber durch intertextuelle Markierungen, Vergleiche, Verweise und Zitate unter anderem auch als der Hades der antiken Mythologie mit den Totenrichtern Behrens und Krokowski, dem ersten "Seelenzergliederer" der Moderne, lesbar. Die hier vollzogene katábasis in umgekehrter Richtung - vom Flachland auf den verzauberten Berg - wird am Ende von einer anábasis Hans Castorps abgelöst, der sich zwar von der antibürgerlichen Welt der Zeitlosigkeit und Vergessenheit lösen kann, dem Erzähler aber gleichsam auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, dem "Weltfest des Todes", aus den Augen gerät. Schließlich trägt auch das Vorspiel zur "Joseph"-Tetralogie, das am Anfang des Romans Reflexionen über den Uranfang allen Erzählens anstellt, den Titel "Höllenfahrt": Jedes Erzählen, so suggeriert der Erzähler, ist eine Reise in die Unterwelt und jede Reise in die Unterwelt ist als Mythos bereits Erzählung: "Fest der Erzählung, du bist des Lebensgeheimnisses Feierkleid, denn du stellst Zeitlosigkeit her für des Volkes Sinn und beschwörst den Mythus, daß er sich abspiele in genauer Gegenwart! Todesfest, Höllenfahrt, bist du wahrlich ein Fest und eine Lustbarkeit der Fleischesseele, welche nicht umsonst dem Vergangenen anhängt, den Gräbern und dem frommen Es war. Aber auch der Geist sei mit dir und gehe in dich ein, damit du gesegnet seiest mit Segen von oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt!"

Isabel Platthaus ist in einer ausgesprochen kenntnisreichen und gut lesbaren Arbeit der epischen Tradition der Unterweltsreise in der Moderne nachgegangen, wobei ihr Hauptaugenmerk auf der strukturellen Funktion und der narrativen Bestimmung des Motivkomplexes "Unterwelt" und weniger auf prototypischen Figuren oder der Motivik insgesamt liegt. Im ersten Kapitel skizziert sie ausgehend von den folgenschweren kosmologischen Umwälzungen der Neuzeit die Entwicklung des Motivkomplexes bis zur Schwelle des 20. Jahrhunderts. In dieser kulturgeschichtlich gehaltenen Einführung wird das veränderte Terrain umrissen, auf dem sich die Unterweltreisen des 20. Jahrhunderts situieren. In den Blick geraten dabei wissenschaftliche und technische Diskurse des 19. Jahrhunderts, die "an die Stelle eines heroischen descensus die effiziente Ausbeutung unterirdischer Ressourcen [setzen], und die Vermessungsleistungen der exakten Wissenschaft entlarven die Vorstellung einer Welt in der Welt, ob jenseitig oder diesseitig, als Verstoß gegen wissenschaftliche Logik und Empirie". Dieser Blickwechsel vom mythischen Ort zum geografisch verifizierbaren Erdinnern lässt nach Meinung der Verfasserin einen imaginären Ort ansichtig werden, "der ebenso auf figurativer Ebene angesiedelt ist, wie er immer wieder an die real-existierende räumliche Lokalität des Untergrundes angeschlossen wird: den Topos der Unterwelt", der in den Bergwerken der Romantik, in den Untergrundreisen der fantastischen Literatur oder den literarischen Expeditionen eines Jules Verne in künstlich geschaffene Unterwelten im 19. Jahrhundert seinen Ausdruck findet. Deutlich wird, dass die im Rahmen der ästhetischen Moderne unternommenen Abstiege unter die materielle wie textuelle Oberfläche mit den suggestiven Insignien der Unterwelt ausgestattet und mit den Versatzstücken des Mythos erzählerisch überformt werden und dabei stets "zitathaftes Leben" sind, wie Thomas Mann in einem seiner Freud-Aufsätze unterstrichen hat.

Weder zufällig noch unmotiviert gerät daher in Isabel Platthaus' Arbeit auch die Psychoanalyse ins Blickfeld der Untersuchung epischer katábaseis, hat doch gerade sie sich sehr ausgiebig der Bilder des Mythos bedient, um die "Tiefen der Wahrheit" des Individuums auszuloten und in eine Geschichte zu transformieren. Freuds Abstieg in die Unterwelt der Psychologie ist Gegenstand des zweiten Kapitels der Arbeit, das mit dem plausiblen Ergebnis aufwartet, die Psychoanalyse als neue Wissenschaft der Tiefe etabliere sich in erster Linie als narratives Unternehmen; die Unterweltsreise wird zur Metapher für das Vorgehen der Psychoanalyse als eines therapeutischen wie theoretischen Prozesses: "Flectere si nequeo Superos Acheronta movebo" lautet bezeichnenderweise das Motto der "Traumdeutung". Das dritte Kapitel steuert zeitlich zurück und widmet sich der Rolle der Hadesfahrten in der klassischen Epik: Homers "Odyssee" erfährt genauso starke Beachtung wie die Nach-Schriften Vergils in der "Aeneis" oder Dantes in der "Divina Commedia", die von Isabel Platthaus völlig zu Recht als die kanonischen Vorgänger der literarischen Unterweltsfahrten des 19. und 20. Jahrhunderts gelesen werden, obwohl evidente Unterschiede bestehen, gewinnen die Vor-Schriften doch gerade in der Inszenierung der Hadesreise noch eine Ausrichtung und Abschließbarkeit ihrer Narration, die dann in den erzählerischen Experimenten der literarischen Avantgarde subvertiert werden.

Den Fluchtpunkt dieser narratologischen Wende stellt James Joyces "Ulysses" dar, ein epischer Text, der mittels der Unterweltreise die Strategien des Erzählens vorführt und zugleich über dessen Grenzen hinausweist. Das vierte Kapitel der Untersuchung steht ganz im Zeichen dieses zentralen Textes des 20. Jahrhunderts, wobei weniger auf "Ulysses" VI, das unter seinem Arbeitstitel "Hades" bekannt ist, als auf "Ulysses" XV, das "Circe"-Kapitel eingegangen wird. Nach Ansicht von Isabel Platthaus sprengt "Circe", immerhin eines der gewagtesten und komplexesten Kapitel des Romans, in seiner Inszenierung die Strukturen des Erzählens. Beispielhaft wird im "Ulysses" "anhand der Unterweltsreise durchgespielt, wie nicht mehr erzählt werden kann, und wie stattdessen erzählt werden könnte". "Circe" selbst ist gewissermaßen "die Unterwelt des Textes, dessen Teil sie ist - eine Vorstellung, die an die Unterwelt als Mikrokosmos des Makrokosmos gemahnt, in ihren radikalen Implikationen jedoch eine völlig neue Ordnung hervorbringt". Überzeugend gelingt es der Verfasserin zu zeigen, dass "Circe" als Text radikal nach der Logik operiert, wie sie Freud in der Traumarbeit und den Primärvorgängen des Unbewussten auffindet. Die zahlreichen motivischen Grenzüberschreitungen verweisen ebenso wie die textuellen Transformationen der epischen Form selbst auf die Initiation eines neuen Erzählens in der Betonung performativer Momente, die im Text und in der Sprache angesiedelt sind. Die intertextuelle Kombinatorik im "Ulysses" lässt den Text zum Vor-Bild für diverse weitere Unterweltsreisen in epischen Texten des 20. Jahrhunderts werden. Neben T. S. Eliots grandioser epischer Nekromantie "The Waste Land", in der die Stimmen der Vorgängertexte nur noch als gebrochene und entstellte vernehmbar sind, werden auch Thomas Manns "Joseph"-Romane, Jorge Luis Borges' Erzählung "El Aleph" und Thomas Pynchons "Gravity's Rainbow" untersucht, in dem die Unterwelt der Ort ist, von dem die Subversion der vertikalen Hierarchie von Herrschaftsstrukturen und Kontrollinstanzen ausgeht. Am Ende ihrer Einleitung bemerkt Isabel Platthaus zutreffend, dass am Ende des 20. Jahrhunderts die Hadesreise wieder in die Geschichte zurückführe, um dort neue Geschichten zu konstruieren. Andererseits beweist ihre Arbeit sehr anschaulich, wie wichtig es ist, neben Konstruktionen und Dekonstruktionen auch die Rekonstruktionen nicht zu vernachlässigen: ohne diesen Ansatz könnten wir die vorliegende eindrucksvolle mythologisch-literarische Topografie der "Höllenfahrten" jedenfalls nicht bestaunen.

Titelbild

Isabel Platthaus: Höllenfahrten. Die epische katabasis und die Unterwelten der Moderne.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2004.
245 Seiten, 32,90 EUR.
ISBN-10: 3770539915

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