Das Vaterland im Sumpf

"Zwanzig Jahre und ein Tag", der neue Roman von Friedenspreisträger Jorge Semprún

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich bin nicht vaterlandslos, ich habe mehrere Heimatländer zugleich", bekannte der spanische Schriftsteller Jorge Semprún vor einigen Jahren in einem Interview. Als Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald kämpfte er in den 50er Jahren gegen das Franco-Regime und musste sich wegen massiver Verfolgungen nach Paris absetzen, das zu seiner zweiten Heimat wurde. So wie Französisch zur Literatursprache des gebürtigen Madrileners avancierte. Nun hat der Friedenspreisträger des Jahres 1994 seinen ersten Roman auf Spanisch geschrieben - im stolzen Alter von 81 Jahren.

Jorge Semprún, der unter dem sozialistischen spanischen Regierungschef Felipe Gonzalez von 1988 bis 1991 Kulturminister war, setzt damit eine Tradition fort, denn seine stark autobiografischen Texte hat er auch in den zurückliegenden Jahren stets in seiner Muttersprache geschrieben.

Jener Federico Sánchez (Semprúns Pseudonym als Untergrundkämpfer), der schon zweimal in den autobiografischen Büchern als Erzähler auftauchte, begleitet uns auch durch den neuen Roman, in dem die spanische Geschichte auf alternierenden Erzählebenen über einen Zeitraum von 50 Jahren (1936 bis 1986) beleuchtet wird.

Fiktion und Fakten mischt Semprún zu einem gewaltigen Gesellschaftspanorama. Ausgangspunkt der Handlung ist eine Recherchereise des amerikanischen Historikers Michael Leidson, der 1956 auf dem Landgut der Familie Avendano in der Provinz Toledo landet und dort mit einer unkonventionellen Bußzeremonie konfrontiert wird. José Maria, der jüngste Sohn der steinreichen Avendanos, war beim Ausbruch des Bürgerkrieges von aufständischen Landarbeitern getötet worden. Seit 20 Jahren versammeln sich Familienangehörige, Freunde und Dörfler zur Gedächtnisfeier. Zu den Freunden des Hauses gehört auch Roberto Sabuesa, ein für politische Verfolgungen verantwortlicher Kommissar der Franco-Polizei. Jener Sabuesa, ein gebildeter Choleriker, der der realen Figur des berüchtigten Roberto Conesa nachempfunden ist, trägt die Verantwortung für viele Hinrichtungen Oppositioneller. Zwanzig Jahre und ein Tag (so der Romantitel) war die symbolische Gefängnisstrafe für Regime-Gegner, denen "minder schwere Delikte" vorgeworfen wurden.

Die Familie Avendano benutzt Semprún in seinem Roman, um die innere Zerrissenheit der spanischen Gesellschaft transparent zu machen. Die Brüder des Getöteten könnten unterschiedlicher kaum sein: José Manuel ist ein egozentrischer Unternehmer mit menschenverachtender Machtgier, sein Bruder José Ignacio ist ein feinsinniger, hoch gebildeter Jesuit - ebenso ein Mensch des Ausgleichs wie Mercedes, die Witwe des Getöteten, die - gegen die Proteste von Freunden und anderen Familienmitgliedern - veranlasst, dass ihr Mann zusammen mit einem Guerillaführer auf dem Familienanwesen seine letzte Ruhestätte finden soll: "Es ist Zeit, die Toten zu begraben, auf daß sie in Frieden ruhen."

Semprúns Erzähler-Egos Leidson und Sánchez gelingt es nicht, Licht ins Dunkel der Geschehnisse des Jahres 1936 zu bringen, aufzuklären, wie der jüngste Avendano-Spross tatsächlich zu Tode kam. "Ich kann mich einfach nicht erinnern." Dieser Satz des Kneipenwirts Eloy Estrada hat programmatischen Charakter; viele Figuren haben eine Wand des Schweigens und Verdrängens als Selbstschutz um sich herum errichtet.

Jorge Semprún hat in diesem Roman nicht nur seine persönlichen Erfahrungen als politisch Verfolgter verarbeitet, sondern auch die durchaus heute noch charakteristische Ambivalenz zwischen spanischer Lebenslust und historischer Wurzellosigkeit dargestellt. Ein großer desillusionierender Gesellschaftsroman mit dem ernüchternden Fazit, "daß das Vaterland im Sumpf eines skeptischen und egoistischen Materialismus versank." Eine Quintessenz, wie wir sie im Herbst (leicht abgewandelt) auch in Rafael Chirbes' Roman "Alte Freunde" vernommen haben.

Titelbild

Jorge Semprun: Zwanzig Jahre und ein Tag. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Elke Wehr.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
292 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3518416804

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