So noch nicht gesehen

Neue Ergebnisse aus dem Umfeld des Johnson-Jahrbuchs

Von Roman KernRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Kern

Unter dem Arbeitstitel "So noch nicht gezeigt" präsentierte eine Reihe von Wissenschaftlern aus aller Welt im "Institute of Germanic and Romance Studies" an der Londoner Universität die neuesten Ergebnisse ihrer Arbeit über Uwe Johnson. Die mittlerweile traditionsreiche Tagung begann am 15. September und dauerte 3 Tage. Bereits im September 1984 war in diesem Institut eine Lesung von Uwe Johnson anlässlich seines 50. Geburtstages geplant. Da man ihn jedoch am 13. März 1984 in Sheerness on Sea tot aufgefunden hatte, geriet die Veranstaltung zu einer Gedenkfeier, bei der damals auch Siegfried Unseld anwesend war. In der aktuellen Form fand die erste Tagung vom 19. bis zum 21. September 1994 unter dem Titel "... und hätte England nie verlassen" statt. Im Vergleich zu der damaligen Veranstaltung war das diesjährige Programm weitaus enger gefasst.

Bis auf fünf waren alle der zwanzig Vortragenden bereits mit mindestens einem Beitrag im Johnson-Jahrbuch vertreten. Da sich viele Teilnehmer bereits von anderen Veranstaltungen kannte, war die Atmosphäre familiär.

Von England aus zeichneten für die Organisation Robert Gillett und Astrid Köhler (London) sowie Colin Riordan (Newcastle) verantwortlich; von Deutschland aus waren Ulrich Fries, Holger Helbig und Irmgard Müller daran beteiligt, die allesamt auch die Johnson-Jahrbücher sowie den gewaltigen "Jahrestage-Kommentar" herausgegeben haben. Holger Helbig eröffnete die Veranstaltung angesichts der Vortragsdichte mit wenigen Worten und versprach den Teilnehmern "für die nächsten drei Tage rundheraus Neuigkeiten": Er sollte in vielerlei Hinsicht Recht behalten, denn das Niveau der Vorträge war durchweg sehr hoch. In der Abfolge der einzelnen Beiträge kam es fast zu einer Art Dialog unter den Vortragenden, was sicherlich zu einem beträchtlichen Teil der geschickten Gestaltung des Programms zu verdanken war. Der Umstand, dass sich so viele Redner mit einer derartigen Fülle verschiedener Themen gefunden hatten, sagt einiges aus über einen Schriftsteller, der wie keiner sonst ein "Dichter der beiden Deutschland" genannt werden konnte, auch wenn er das immer weit von sich wies.

Das Umfeld des Johnson-Jahrbuchs

Die inzwischen elf Bände des Johnson-Jahrbuchs bieten guten Anlass, um ein wenig zurückzublicken. Begonnen hatte alles mit zwei Seminaren in Jena: Kurz nach dem Fall der Mauer, im Wintersemester 1990 und im darauf folgenden Sommersemester fand ein Gemeinschaftsprojekt der Universitäten Jena und Hannover statt. Einer der Germanisten aus Göttingen war Ulrich Fries, der seine Dissertation über die "Jahrestage" geschrieben hatte. Auf der Rückfahrt saß plötzlich Holger Helbig mit in seinem Auto - er hatte ihn irgendwie überzeugen können, dass der Weg von Jena nach Kiel über Mühlhausen führte. Die beiden fanden schnell heraus, dass sie eine Menge gemeinsamer Interessen hatten, und so kam es drei Wochen später zu einem Wiedersehen in Kiel. Man munkelt, es könne nicht früh am Abend gewesen sein, als ein ungewöhnlicher Plan geschmiedet wurde: Ulrich Fries wollte alle Teilnehmer des Seminars nach New York einladen, um den 57. Geburtstag Uwe Johnsons gebührend am Riverside Drive zu feiern. Holger Helbig sollte die Organisation übernehmen. Dass sich Ulrich Fries als Erbe eines florierenden Holzhandels diese Einladung leisten konnte, war sicherlich ein Glücksfall, und die Einladung dürfte zu den ungewöhnlichsten ,Schnapsideen' gehören, die in der Johnson-Forschung umgesetzt wurden. Der Vorschlag wurde begeistert aufgenommen und so flogen alle Teilnehmer vom 12. bis zum 19. Juli 1991 nach New York. Auf dem Rückflug kam Ulrich Fries mit einem neuen Vorschlag: Er wollte die "Jahrestage" kommentieren. In der Folge entstand eine Gruppe, die Ende 1991 mit der Arbeit daran begann.

Es war klar, dass das gemeinsame Vorhaben nicht binnen weniger Monate oder Jahre zu bewältigen war. Daher lag es auf der Hand, zunächst das Johnson-Jahrbuch zu lancieren, um entstehendes Forschungsmaterial rasch veröffentlichen zu können. Die intensive Arbeit mit dem Text der "Jahrestage" sorgte für eine kontinuierliche Ansammlung von Materialien, die keinen Eingang in den Kommentar finden konnten und daher bestens geeignet waren, das Jahrbuch zu "befruchten". Sehr schnell wurde es zu einer für Johnson-Forscher unübersehbaren Plattform. Das Projekt war zunächst nur auf zehn Bände angelegt, was nun Anlass zur Sorge gab: Mit dem Erscheinen des zehnten Bandes war das gesteckte Ziel eigentlich erreicht und zudem die von Ulrich Fries ursprünglich in Auftrag gegebenen zehn Bilder für die Einbände sämtlich erschienen. Die Herausgeber wollten sich darüber hinaus anderen Dingen widmen -das beliebte Forum drohte zu verschwinden. Erfreulicherweise hat sich jedoch Michael Hofmann, der lange Jahre Herausgeber des Peter Weiss Jahrbuchs war, der Aufgabe angenommen, sodass pünktlich zum Ende des Vorjahres der elfte Band erscheinen konnte.

Der Jahrestage-Kommentar

Auch wenn sich das Jahrbuch im Laufe der Zeit zu einem wichtigen Organ der Johnson-Forschung entwickelt hat, galt nach wie vor das Hauptaugenmerk der Gruppe der Kommentierung von Johnsons "Jahrestage". Uneinigkeit gab es manchmal aufgrund von Differenzen zwischen Ost und West. Irmgard Müller umschrieb das folgendermaßen: "während die einen ,You bastard!' zu übersetzen unter ihrer Bildungswürde hielten, fanden die anderen es lächerlich, die Buchstaben ,FDJ' zu erläutern." Zu unterschiedlich waren die Schulen gewesen, durch die Ost und West im Laufe der letzten Jahrzehnte gegangen waren. Dennoch trug die gemeinsame Arbeit bald Früchte. Die Dichte des Textes und die Fülle geschichtlicher und intertextueller Referenzen sorgten immer wieder für gebührenden Respekt vor dem Autor. Zunächst dachte man, das Projekt binnen eines Jahres abschließen zu können, weshalb der Kommentar im ersten Jahrbuch angekündigt wurde. Doch dann ereignete sich etwas Ähnliches, wie es Uwe Johnson bei der Arbeit an den "Jahrestagen" selbst widerfahren war. In einem Brief Ende Juni 1970 schreibt er an Hannah Arendt: "Mein Manuskript war inzwischen so angeschwollen, dass wir es nun doch nicht als Ganzes, sondern erst mit einem Drittel herausbringen wollen": Ebenso nahm der Umfang des Kommentars stetig zu. Ursprünglich war geplant, ihn in zwei Bänden erscheinen zu lassen, doch die Arbeit verzögerte sich immer weiter, und es war, entgegen der ursprünglichen Ankündigung, erst der 5. Band des Jahrbuchs, in dem sich folgende Erklärung fand: "Die Fertigstellung des Zeilenkommentars [...[ ist für 1998 vorgesehen, das Erscheinen für spätestens 1999. Das ist eine erhebliche Verzögerung gegenüber unserer ursprünglichen Planung [...]. Sie erklärt sich im Wesentlichen aus dem Umstand, dass die Arbeit am Text den Blick für seine Besonderheiten geschärft hat." Eine solche Arbeit kann eigentlich nur im klassischen Sinne als ,work in progress' bezeichnet werden; dennoch ist seit Längerem ein mehr als respektabler Status quo erreicht: Bei seiner Veröffentlichung im Jahr 1999 umfasste der Band 1.132 Seiten (vgl. den Hinweis in literaturkritik.de 01/2000). Er beinhaltet einen umfangreichen Stellenkommentar sowie neben dem vorbildlichen Quellen- und Siglenverzeichnis - ein detailliertes Personen-, Sach- und Ortsregister. Das Vorwort beginnt mit den Sätzen: "Der vorliegende Kommentar ist ein Buch zum Buch von Lesern für Leser. Sein Zustandekommen verdankt sich privatem Interesse, nicht professioneller Verpflichtung."

So erfreulich die Verfügbarkeit dieser umfangreichen und sorgsam aufbereiteten Materialsammlung ist - angesichts einer solchen Fülle von Daten wünscht man sich als Leser eine einfache und schnelle Möglichkeit, darauf zuzugreifen. Hinzu kommt, dass ein gedrucktes Werk immer nur den jeweils aktuellen Stand der Forschung festhalten kann. Daher sind die Herausgeber im Augenblick dabei, einen Schritt weiterzugehen und das gesamte Material online und stets aktuell verfügbar zu machen. Hier kann man von den enormen Arbeitserleichterungen profitieren, die moderne Hypertextverlinkung und Volltextsuche bieten. Auf der Londoner Tagung war es möglich, das Buch zusammen mit einer CD-Version, die den Stand des Kommentars vom 20. Juli 2004 fixiert hatte, zu einem eigens mit dem Verlag ausgehandelten Vorzugspreis zu erwerben. Die CD trug das Datum des 70. Geburtstages von Uwe Johnson und war damit wohl sein schönstes Geburtstagsgeschenk. Offiziell handelte es sich bei der CD, die es nur bei der Tagung gab, um ein Werbegeschenk; bislang ist ungeklärt, ob sie jemals mit dem Buch zusammen in den Handel gelangt. Der gesamte Kommentar ist seit Anfang des Jahres 2005 online verfügbar (http://www.ndl.germanistik.phil.uni-erlangen.de/extras/johnkomm/).

Das Projekt um den "Jahrestage"-Kommentar ist in vielfacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen ist ein solches Unterfangen aus wissenschaftlicher Sicht mehr als wünschenswert. Die Sorgfalt, mit der hier zu Werke gegangen wurde, hat ein Standardnachschlagewerk geschaffen, an dem kein "Jahrestage"-Forscher in Zukunft vorbeikommen dürfte und das auch so manchem nicht professionellen Leser eine schier unerschöpfliche Quelle zum besseren Verständnis des Werkes bietet. Zum anderen nötigt die Einstellung, mit der daran gearbeitet wurde, Hochachtung ab: Bei aller Professionalität in der Verwirklichung des Projektes sind die Verfasser nicht der Versuchung erlegen, sich die Deutungshoheit über den Primärtext anzumaßen. Vielmehr haben sie die Überfülle des in die "Jahrestage" eingegangenen Materials frei von akademischem Dünkel präsentiert. Und schließlich ist das Vorhaben, den Kommentar online frei verfügbar zu machen, ein im Bereich der Wissenschaft leider noch immer zu selten anzutreffendes Phänomen, werden hier doch im Gegensatz zu manch anderem Projekt, Forschung und daraus resultierendes Wissen nicht allein unter dem Blickwinkel der materiellen Verwertbarkeit wahrgenommen.

Ein Ausblick

Für die nahe Zukunft wurde auf der Konferenz ein Buch von Uwe Neumann angekündigt, das verspricht, Furore zu machen. In London wurde ihm die Ehre zuteil, die Tagung zu beschließen, da er, wie einleitend bemerkt wurde, von Südafrika den weitesten Anreiseweg hatte. Er präsentierte Stücke aus der bei Suhrkamp schon länger angekündigten Anthologie "Johnson-Jahre" - und der Saal bog sich vor Lachen. Uwe Neumann hat seit einigen Jahren Material über Johnson gesammelt, jedoch nicht in Form von wissenschaftlichen Aufsätzen: Es sind Kommentare und Erinnerungen von Zeitgenossen und Autorenkollegen. Mittlerweile hat er auch etliche Briefe mit den unterschiedlichsten Leuten gewechselt, um sie zu einer Stellungnahme zu bewegen, sodass die Sammlung von über tausend einzelnen Beiträgen ein sehr polyfones Ganzes ergeben wird. Länge und Art der Stücke sind sehr verschieden - von aphoristischen Zweizeilern über kurze Stellungnahmen bis hin zu längeren Erinnerungen. Der größere Teil des Materials wurde von Uwe Neumann zusammengesucht, wobei etwa ein Fünftel auf eigene Anfragen zurückgeht. Ganz unproblematisch gestaltet sich die Veröffentlichung jedoch nicht: Neben Schwierigkeiten im Verlag - unter anderem wurde nach drei Jahren Arbeit für das Projekt ein anderer Lektor zugeteilt - stellte sich vor allem die Klärung der urheberrechtlichen Fragen als sehr kompliziert heraus, da jeder einzelne Beitrag vertraglich ausgehandelt werden muss. Bei einer derart großen Anzahl von Autoren ist das eine wahre Sisyphusarbeit. So erstaunt nicht, dass das Buch, obwohl bereits für Mai 2004 bei Suhrkamp angekündigt, in der Zwischenzeit von der Webseite verschwunden war. Nun scheinen jedoch die rechtlichen Fragen weitgehend geklärt zu sein, und man darf hoffen, dass das Buch demnächst erscheinen wird.

Der lange Weg vom Werk zum Leben

Doch damit ist es immer noch nicht genug. Als Bernd Neumann 1994 seine Johnson-Biografie vorstellte, war das sicherlich Grund zur Freude: Eine Menge Material ist dort versammelt und gibt einen guten Einblick in Uwe Johnsons Leben. Doch in einigen Punkten machte das Buch mehr Appetit, als es zu sättigen vermochte. Neben verschiedenen anderen Kritikpunkten ist in wissenschaftlicher Hinsicht vor allem das Fehlen eines umfassenden Apparates zu bemängeln - das Personenregister allein erlaubt kaum das gezielte Auffinden von Informationen, die sich nicht mit einem Namen verbinden lassen. Seit Längerem lag daher die Idee in der Luft, eine neue Biografie zu verfassen, und seit März 2004 ist daraus gezielte Planung geworden. Holger Helbig sprach am Ende der Konferenz mit einem Augenzwinkern davon, das Buch zum Weihnachtsgeschäft 2010 in die Läden bringen zu wollen; er rechnet großzügig mit etwa 5 Jahren Arbeitsaufwand. Die Erfahrung mit dem Kommentar hat ihn sicherlich gelehrt, Zeitpläne mit Vorsicht zu genießen. Das Projekt lässt auf eine ausgezeichnet recherchierte Johnson-Bibel hoffen - man darf also im besten Sinne darauf vertrauen, dass sich einiges tun wird. So kann man abschließend dem Tagungsmotto entsprechend sagen: Es wird viel Neues geben in Zukunft - neu vor allem deshalb, weil "so noch nicht gezeigt".