"Ein Monster und zwei Menschen, das ist ungerade"

Bettina Gundermanns Roman "Lysander" erschüttert und beeindruckt

Von Sandra SchäferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Schäfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sehr viel Blut, eimerweise Hass, tausend Liter Angst, lähmende Traurigkeit, eiskaltes Entsetzen, Millionen Jahre Einsamkeit, und dann der Hass, erneut, und die Angst, erneut. Doch zugleich eine schwere Ruhe. Eine schwere Ruhe, die für drei Wochen reichen würde." - Das sind jene aversiven Gefühle, mit denen sich der Leser bei der Lektüre dieses Romans konfrontiert sieht. Doch dabei bleibt es nicht. Von der ersten Seite an schafft es Bettina Gundermann, den Leser mit-leiden zu lassen.

Missgestaltet, so ist nicht nur Lysanders Äußeres zu beschreiben. Missförmig ist auch die Selbstsicht des Protagonisten. Ungerade verläuft sein Leben. Ebenso wie das der beiden Menschen, die ihm begegnen: Riccardo und Kira. Mensch oder Monster? Diese Frage kann man ob der schrecklichen Dinge, die ihnen in ihren Leben widerfahren sind, nicht beantworten. Innerlich oder Äußerlich, aus Eigen- oder Fremdsicht - irgendwo sind sie alle drei Monster, die sich irgendwie ein wenig Menschlichkeit bewahrt haben.

Lysander ist "der lebende Beweis, dass es einen Satan gibt. Er zündete [ihn] an, als Gott schlief: Licht!" Lysander meidet das Licht.

Eigentlich war es nicht wirklich der Satan. Lysanders Mutter war es, die ihn in den Wald trug, wo er auch geboren wurde, und ihn anzündete. Doch Lysander überlebt und wächst fortan schrecklich entstellt in einem Heim auf. Keine Spiegel gibt es dort, und so bleiben ihm lediglich die Essenszeiten, um sein Gesicht im Besteck betrachten zu können. An der Wand des Speisesaals liest er in großen Lettern: "Gott liebt alle Kinder." Die so grausam sein können. Sie benehmen sich hässlicher als Lysander aussieht. Lysander versteckt sich, Lysander leidet, Lysander verletzt sich selbst, Lysander lebt lediglich aus Reflex, Lysander stirbt nicht. "Lysander, Du lebst ja noch", so begrüßen ihn die Bäume, wenn er in den Wald geht. Manchmal fängt Lysander an zu summen. Die Melodie in seinem Kopf ist seine Zuflucht. Sie war "[d]as Erste, was er wahrnahm: Musik, gemacht von Regentropfen." Sie begleitet ihn in seinem Leben. Musik ist Lysanders Begabung und bewahrt ihm seine Menschlichkeit.

Riccardo und Lysander lernen sich in einer psychiatrischen Klinik kennen: "Von Gott fehlt hier jede Spur." Riccardo ist "den Anblick von Hässlichkeit gewohnt" und so wird er Lysanders einziger Freund. Er macht ihm zwei außerordentliche Geschenke: Vorfreude und Vergessen.

Riccardo verspricht ihm: "[I]rgendwann bring ich einen nach dem anderen für dich um. Nur eine Frage der Zeit. Denk daran und freu dich drauf. Das hilft. - So lernt Lysander die Vorfreude kennen." Doch wenn Lysander an die Freiheit denkt, kann er keine Vorfreude empfinden. Freiheit ist kein Gewinn für ihn. Bei seiner Entlassung geht er "nicht freiwillig, er wurde von zwei Sozialarbeitern weggezerrt." Ein ganzes Jahr muss er alleine leben: "Lysander bekam ein Jahr Ruhe, er wurde fast verrückt davon. [...] Bald wollte er jeden Tag seinen Gewinn dafür nutzen, sich umzubringen. Jeden Tag dachte er vor dem Einschlafen und mit dem Aufwachen an den Tod. Doch die Vorfreude war stärker, er hielt sich an ihr fest, mit aller Macht, und er machte jeden Tag ein Kreuz."

Als er schließlich mit Riccardo zusammenzieht, schenkt dieser ihm ein Klavier. Nun kann Lysander seine "Technik gegen das Verrücktwerden", nämlich "eine Sprache, eine Schrift, mit der er die Melodien aus seinem Kopf aufschreiben konnte", auf das Instrument übertragen, erfahrbar machen - und findet darin endlich Ruhe: "Lysander sagt: Du hattest Recht. Die Freiheit ist ein Gewinn. Lysander spürt was Glück ist. Wenn er seine Musik spielt, versinkt er vollkommen in diesem warmen, weichen und leichten Gefühl. Er vergisst alles und vor allem vergisst er sich selbst."

Riccardo findet keine Ruhe in der Freiheit, auf die er so gehofft hat. Statt dessen: Leere, die er mit Arbeit und Frauen füllt. Er will "das Leben schmecken", aber die Unruhe holt ihn immer wieder ein, "der ganze Kopf verdreckt von zuviel Hässlichkeit." Die Leere gibt der Erinnerung Raum, die hin und wieder unvermittelt in sein Bewusstsein blitzt. Dem kann er nur standhalten, indem er der Unruhe nachgibt, sich von seinen Mitmenschen zurückzieht, andere verletzt, um sie und sich vor Schlimmerem zu schützen.

Fünf Jahre war er alt, als er mit ansehen musste, wie seine Mutter brutal vergewaltigt und umgebracht wurde, wie "die Menschen Riccardos Mutter die Augen entfernten mit den Sternen darin und die Zunge abschnitten mit ihrem Lachen darauf." Seine eigene Lebendigkeit hat er mit diesem Tag verloren. Und bevor er Kira begegnet, geschieht es nur ein einziges Mal, dass er "eine bleierne, schwere Lebendigkeit" fühlt: als er im Alter von zwölf Jahren in einem Einkaufszentrum in eine Menschenmenge schoss. Weinen kann Riccardo nicht. Und er spürt seine tiefe Traurigkeit kaum: "Lysanders Musik wirft Steine ins Meer. Doch die Deiche sind zu hoch und sie sind sehr stark. Sie verhindern, dass das Meer überschwappt. Aus Riccardos Augen."

Doch als er Kira findet, kehrt die Lebendigkeit zurück, verschwindet die Leere, ergibt sich die Unruhe. Sie kann ihm Erleichterung und Leichtigkeit schenken. Zumindest für eine Weile.

Kira liegt blutend auf der Straße. Ein Unfall, Fahrerflucht. Riccardo bringt sie ins Krankenhaus und besucht sie fortan. Nur knapp ist Kira "dem Tod von der Schippe gesprungen." Doch sie lächelt gegen alle Traurigkeit in ihrem Leben an. Kira, die friert, "um sich zu spüren, um sich selbst nicht als Hülle, als eine einzige Leere wahrzunehmen", die hofft, "sie würde gesehen, wenn sie lächelt", weil sie glaubt, manche Menschen könnten sie nicht sehen. So wie der Unfallfahrer. So wie ihr Vater. Der nur "manchmal fast schwach" wurde, wenn Kira ihn anlächelte. "Das schönste, beste, bezaubernste Lächeln, das alle Welt zum Strahlen bringen muss und den Tod, den sie gebracht hat, unsichtbar macht" - es nützt dennoch nichts, ihr Vater will sie nicht, ihre Mutter starb bei der Geburt.

Mit ihrem Lächeln strahlt Kira in Riccardo hinein. Sie liebt Riccardo, weil er sie gerettet hat, weil er schön ist, weil sie nicht mehr alleine sein muss, weil sie keine Angst mehr haben muss und wegen der Musik. Die eigentlich Lysanders ist. Der unsichtbar bleibt. Und sich dennoch ebenfalls in Kira verliebt, in ihren Geruch, ihre Stimme, ihr Leuchten.

Kiras Leuchten wärmt Riccardo nicht lange. Und auch Riccardos Gesellschaft kann weder Kira noch Lysander auf Dauer der Einsamkeit entreißen. Und so kehrt der Krach in Lysanders Kopf zurück. Er verliert Riccardo, er verliert die Vorfreude, er verliert seine Musik. Er flieht das Licht, fristet fortan im Wald und in dunklen Hinterhöfen ein unmenschliches Leben. Das wenige Gute gerät in Vergessenheit, dafür kommt die Erinnerung zurück. Riccardo hingegen muss die Erinnerung herbeizwingen. Er muss sich erinnern, sonst erträgt er die Unruhe, die Leere nicht länger.

Lysander und Riccardo sind noch immer verzweifelt Suchende. Die sich mit Weinen und Schreien ihrer Menschlichkeit versichern müssen und es doch nicht mehr häufig können. Kira ist die Einzige, die neben ihrer Angst noch Hoffnung hat und sich daran festklammert. Aber - wie Katja Lange-Müller formuliert - es ist die "Macht des Traumas, [...] existenziell erfahrene Gewalt, die - gegen allen Widerstand, ja selbst große Begabung - vier Menschenleben zerstört."

In kurzen Sätzen, archaischem Ton und gezielten Bildern, kurz: mit außergewöhnlicher Sprachgewalt brennt sich dieses traurige und alptraumartige Märchen von Lysander, Riccardo und Kira ins Gedächtnis. Einleuchtend und sensibel dargestellt, gut recherchiert und durchdacht wird dem Leser das Undenkbare vorgeführt und - wenn er sich denn darauf einlässt - das Schreckliche nachfühlbar.

Durch die nicht-chronologische Erzählweise werden Schicht um Schicht Erinnerungen freigelegt, plötzlich, unerwartet, und so erfährt der Leser nach und nach mehr über die Geschehnisse, durch die drei Menschen auf ihre jeweils eigene Art so stark traumatisiert wurden. Die Verdrängungsmechanismen brechen auf und lassen Blicke zu auf Entsetzliches, wie es keine Seele unbeschadet ertragen kann. Die sprunghafte Erzählweise des Buches lässt den Leser dabei das blitzartige Erkennen und Erinnern der Protagonisten nachempfinden.

Formelhafte Wiederholungen mancher Phrasen und das erneute Anklingen von Motiven wirken hier nicht wie ein plumpes Stilmittel, sondern sind Bindeglieder zwischen den Figuren ebenso wie zwischen Erinnerung und Gegenwart. Sie sind zuweilen wie ein zwanghaftes Mantra, welches die verletzte Persönlichkeitsstruktur und Identität in letzter Instanz zusammenhält und am vollständigen Kollabieren hindert.

Gundermanns Schilderung der drei Protagonisten hält selbst dem Abgleich mit klinischen Diagnosekriterien stand. Bis in die Einzelheiten werden hier mögliche Verläufe eines speziellen Krankheitsbildes präsentiert: der chronischen posttraumatischen Belastungsstörung. Die traumatische Erfahrung von Gewalt, von körperlicher und/oder psychischer Extrembelastungen ist zu schrecklich, um verarbeitet werden zu können, so kommt es zur traumatischen Reaktion. Laut der Psychotraumatologin und Professorin Judith Lewis Herman ("Die Narben der Gewalt", 2003) oszilliert die Dynamik des Traumas zwischen Wiedererleben und Gedächtnisverlust, Gefühlsüberflutung und Gefühlslosigkeit, Impulsivität und Handlungsblockierung. Flashbackartiges Erinnern, wie es die Romanstruktur bei allen Protagonisten nahe legt, wäre dabei ein Versuch, das Geschehene zu integrieren, ein mögliches Symptom der so genannten Intrusion. Vermeidungsstrategien wie z. B. das vollständige Ausblenden bestimmter Erinnerungen, wie es Riccardo mit dem Blut seiner Mutter geschieht, verhindern Verarbeitung und bewusstes Handeln und sind ein Symptom der so genannten Konstriktion. Übererregung z. B. in Form von Schlafstörungen, Reizbarkeit und Wutausbrüchen wäre eine dritte entscheidende Symptomgruppe, die sich ebenfalls an den Figuren Riccardos und Lysanders nachweisen ließe, um nur wenige der möglichen Symptome aufzuführen. Bei chronischem Verlauf der Störung können weitere Symptome auftreten wie Agoraphobie, soziale Phobie, Depression und selbstverletzendes Verhalten, wie sie Lysander besonders aufgrund seiner schrecklichen Folgeerfahrungen zu durchleiden hat.

Das soziale Umfeld kann Riccardo und Lysander nicht helfen, ihr psychisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Einzig Kira findet hier etwas Rückhalt und ist mit Persönlichkeitseigenschaften gesegnet, die sie die Traumata "besser" bewältigen lassen.

Es ist beeindruckend, wie detailliert und plausibel es Bettina Gundermann gelingt, all das anschaulich zu machen, ohne dabei klinisch oder klischeehaft zu werden. Sie pflanzt Bilder und Gefühle in den Kopf, die einen so bald nicht wieder loslassen. Zur Ruhe kommen wird man nach Lektüre dieses Romans sicherlich für länger als drei Wochen nicht. Denn Gundermann schafft beim Leser ein Bewusstsein für das Seelenleben der Opfer von individueller oder kollektiver Gewalt, von Misshandlung, Lebensbedrohung und traumatischem Verlust. Und ganz empfindsame Seelen werden nach der Lektüre dieses Romans vielleicht ganz leise erahnen können, wie es sich für Riccardo anfühlt, "[...] das Hässliche in seinem Leben, das ihn umgibt, das ihn nicht loslassen mag. Das ihm folgt. Auf Schritt und Tritt. Nicht abzuschütteln, das Hässliche. Wie ein Magnet, ein Parasit, die Pest. Das Hässliche, das sich nicht beeindrucken ließ von Jahren der Heuchelei, das sich nicht übertönen ließ von der Freiheit. Das, was keimt und reift und wächst und da ist. Immer da."

Titelbild

Bettina Gundermann: Lysander. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
152 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3895613606

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