Entleerte Räume

Männliche Definition weiblicher (Wohn-) Bedürfnisse

Von Beate RaibleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beate Raible

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Übergang zum 20. Jahrhundert stand das bürgerliche Wohnen in Europa in völligem Kontrast zum Ideal der Moderne, dem offenen, von allen überflüssigen Dingen befreiten und befreienden Raum. Wenn man sich bewusst macht, dass Räume immer mit Verhaltensregeln, Handlungsmöglichkeiten und soziokulturellen Konnotationen zu tun haben, ist es folgerichtig, Architektur aus geschlechtssensibler Perspektive näher zu betrachten. Sabine Pollak fokussiert ihren Blick dabei auf das private Wohnen, den Ort, mit dem sich Frauen von jeher identifiziert haben und in den sie bis zur Jahrhundertwende verwiesen wurden. Die moderne Architektur forderte einen Traditionsbruch auf allen Ebenen des Lebens. Das Freiheitsversprechen, welches mit dem neuen Wohnen einherging, änderte jedoch wenig an der traditionellen Rollenzuteilung. "Am Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dann systematisch vor allem dieses Innere der Wohnungen [...] von allen weiblichen Attributen geleert und reduziert". Die veränderte Raumkonzeption zwischen Jahrhundertwende und später Moderne liest die Autorin als "kontinuierliche[n] Prozess einer Raumleerung" und "Ausschließen von Weiblichkeit". Anhand einer breit gefächerten Auswahl an Foto-, Text- und Filmmaterial untersucht Sabine Pollak den Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Bild des gesellschaftlich gewünschten häuslichen Wohnens und dem "Bild idealisierter Weiblichkeit". Dabei werden die Reformbewegungen der Frauen seit dem späten 19. Jahrhundert in der Betrachtung bewusst ausgeklammert.

Zu Beginn des Buches "Leere Räume" werden die persönliche Anreise zum Farnsworth-Haus in Plano, Illinois, und dessen veröffentlichte Fotoaufnahmen beschrieben. Das 1949-1951 von Mies van der Rohe erbaute Wochenendhaus gilt einerseits als Ikone der Moderne: eine aufs Äußerste reduzierte Glasbox, von weiß lackierten Stahlstützen über dem Boden gehalten. Andererseits beurteilte die Bauherrin, eine erfolgreiche alleinstehende Ärztin, das Haus als unbewohnbar. Die Bilder und Texte über das Gebäude zeigen, nach Aussage der Autorin, fast ausnahmslos den vom Architekten inszenierten Idealzustand und beinhalten keinerlei Spuren einer Benutzung. Es scheine so, als hätte Edith Farnsworth nicht existiert. Mit der Frage nach den Gründen dieser Abwesenheit nimmt Sabine Pollak das Farnsworth-Haus als Hintergrundbild und führt den Leser durch die Kapitel "Dinge", "Schichten", "Spuren", "Körper" und "Glas", um gleich einer Spurensuche das Verborgene aufzudecken.

Die beiden Abschnitte "Dinge" und "Schichten" beschreiben bildhaft das Interieur und die Praktiken bürgerlichen Wohnens. Bezugnehmend u. a. auf Walter Benjamin oder Gaston Bachelard wird die bürgerliche Wohnung als "Dingwelt" voller Erinnerungen dargestellt. Die Autorin kann nachvollziehbar aufzeigen, wie das Interieur und die Qualität der geschlechtsspezifischen Räume seiner Zeit, etwa das "Zimmer des Herrn" oder das "Zimmer der Dame", den "stereotypen Charaktereigenschaften von Mann und Frau entsprachen". Der Praktik des Sammelns von mehr oder weniger nutzlosen Dingen, eine offensichtlich weibliche Vorliebe, wird Le Corbusiers Konzept der reinen "Typenobjekte" gegenübergestellt, mit dem er die Gegenstände in der Wohnung kategorisieren und folglich reduzieren konnte.

Das Kapitel "Spuren" widmet sich dem plausibel als männliche Inszenierung entlarvten "Bild der hysterischen Frau", das neben dem "Bild verletzlicher Weiblichkeit" parallel existierte. "Am Ende des 19. Jahrhunderts entsprach die hypersensible, nervlich zerrüttete, anfällige und hysterische Frau dem gängigen Bild einer ganz normalen Frau". Dieses "Andersein" musste im abgeschiedenen "Zimmer der Dame" oder dem "Boudoir" versteckt werden. Mit einer ausführlichen Darstellung surrealistischer Manifeste und Praktiken wird aufgezeigt, dass die Künstler diesen Mythos der entrückten Frau bis in die 30er Jahre aufrecht erhielten.

Im Kapitel "Körper" wird beschrieben, wie die veränderte, sportliche, neu eingekleidete Frau in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, so die Autorin, zeichen- und bildhaft präsentiert wurde, um die neue Architektur zu transportieren. Es drängt sich jedoch die Frage auf, welche Rolle die Reformbewegung der Frauenemanzipation gespielt hat. Sehr eindrücklich hingegen wird der männliche Blick auf die Entwicklung der modernen Wohnung und der modernen Stadt aufgedeckt.

Das private Wohnen der Nachkriegszeit in Amerika, wohin viele Architekten aufgrund der politischen Lage in Europa emigrierten, ist Schwerpunkt des abschließenden Kapitels "Glas". Die Autorin stellt stichhaltig dar, welche Vorstellungen mit den großflächigen Verglasungen in den Vorstadthäusern verbunden wurden: Offenheit, Freiheit, Anschluss an die Öffentlichkeit oder Naturverbundenheit. "Die Freiheit, die über Glas und Medien versprochen wurde, entpuppte sich als eine rein rhetorische Freiheit, die nichts an traditionellen Rollenbildern änderte". Mit der Beschreibung und Interpretation des Farnsworth-Hauses wird der Kreis zum Ausgangspunkt der Untersuchung geschlossen.

Sabine Pollak vermittelt eindrücklich, wie sich das idealisierte Bild der Frau zwischen "Jungfräulichkeit, Häuslichkeit, Hysterie und Vermännlichung" bewegte. Damit das neue Wohnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert werden konnte, musste die Veränderung, so die Autorin, an der Frau selbst erfolgen, an deren Körper, Psyche, Geschmack und Stil. Diese Schlussfolgerung ist nachvollziehbar, besonders wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die Protagonisten der Moderne überwiegend männlich waren. Denn es sei ja gerade das weibliche Bedürfnis nach "Gemütlichkeit" gewesen, welches die Wohnungen der Jahrhundertwende in dunkle, angefüllte, mit Textilien verhängte Höhlen verwandelt habe und das es zu verändern gelte. Die Antwort auf die Frage nach den realen Bedürfnissen der Frau erschließt sich den LeserInnen jedoch nur aus der Negierung des idealisierten Bildes.

Die Autorin beschließt ihren Beitrag mit dem Plädoyer, Architektur und insbesondere Wohnen unter dem Aspekt "Gender" zu betrachten. Denn die Geschlechter und ihre Differenz könnten nicht als eine natürliche Gegebenheit oder biologische Determinierung gelten, sondern seien vielmehr ein soziales Konstrukt und eine konstruierte Kategorie.

Das Buch "Leere Räume" ist als Kritik an der modernen Architektur zu verstehen, welche die Befreiung aus der Umklammerung bürgerlicher Gewohnheiten mit einem einseitig männlichen Blick vollzogen hat. Es verlangt nach konzentrierter Aufmerksamkeit und theoretischem Vorwissen, um die Beschreibungen vor dem inneren Auge visualisieren zu können.

Titelbild

Sabine Pollak: Leere Räume. Weiblichkeit und Wohnen in der Moderne.
Sonderzahl Verlag, Wien 2004.
237 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3854492200

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