Egomane mit Aknepusteln

Biografisches Fundament für zerklüftete Gewalt- und Irrsinnswelten: James Ellroys Storysammlung "Endstation Leichenschauhaus"

Von Maik SöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maik Söhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass er zig tausend Seiten Prosa in gleich bleibend hoher Qualität produzieren kann, hat James Ellroy mit seinen Los Angeles- und Amerika-Trilogien längst gezeigt. Dass er auch die eher kleinen literarischen Formen beherrscht, davon kann man sich nun in dem seit Kurzem auf Deutsch vorliegenden Storyband "Endstation Leichenschauhaus" überzeugen. Wer seine Romane noch nicht kennt, dem seien all diese Kurzgeschichten, Novellen und auch die zuerst im Magazin "GQ" erschienen Artikel als einfacher und übersichtlicher Einstieg ins Werk eines Vielschreibers empfohlen. Wer sie kennt, dem liefern die Storys neue literarische Anhaltspunkte über den Verfall der Welt aus der Sicht Ellroys, aber auch das biografische Fundament, auf dem der Autor seine zerklüfteten Gewalt- und Irrsinnswelten errichtet hat.

Denn hier hält einer in seiner ihm eigenen Art Rückschau. "Ich betrachte L. A. als Eingeborener. Ich zog mir die Fakten rein und arbeitete sie nach Kindermanier um. Ganz unterschiedlichen Scheiß. Der gemeinsame Nenner bestand in Korruption und Obsession. Ich war ein Kind noir", schreibt Ellroy über jene Zeit, als er noch Vater und Mutter hatte. Die Mutter wurde nur wenig später ermordet, der Täter konnte nie ermittelt werden. Er wächst bei seinem Vater zwischen Dosenbier, Pornoheften und Boxwetten auf. Als dieser stirbt, ist er noch nicht erwachsen. Mit den Begriffen "Sexualhass" und "Rache" seien seine Antriebsmotive in der Kindheit bestens benannt, schreibt Ellroy in der Story "Mit den Eiern zur Wand".

Für seine Jugendzeit findet er mehr Worte: "Ich war ein unerfreulicher Mini-Misanthrop mit misslichen Begriffen von Hygiene. Ich war ein Egomane mit Aknepusteln." Um Mitschülern und vor allem Mitschülerinnen aufzufallen, schließt er sich der amerikanischen Nazi-Partei an. Als er merkt, dass das niemanden interessiert, tritt er wieder aus. Alkohol, Drogen, Obdachlosigkeit, Hunger, Huren, Gewalt, Knast - in der Altersspanne von 15 bis 25 erlebt Ellroy so einiges, wofür bei anderen ein ganzes Leben nicht ausreicht.

Der Übergang der autobiografischen zu den für Ellroy typischen Geschichten mit den üblichen korrupten Journalisten und Politikern, brutalen und moralisierenden Cops ("Ich war für die Todesstrafe", aber "die Hinrichtung unschuldiger Männer und Frauen konnte ich nicht hinnehmen"), psychopathischen Mördern und Beamten, sex- oder drogensüchtigen Hollywoodstarlets und Privatdetektiven ist fließend. Man denkt gerade noch darüber nach, was die Schwierigkeiten des jungen Ellroy mit dem Stil und der Perspektive des mittlerweile fast 60-jährigen Schriftstellers zu tun haben könnten, schon ist man mitten in der nächsten Story: "Wir wollen es wissen. Wer wen kennt. Wer wen ablutscht. Wer's bringt. Wer's regelmäßig treibt. Wer drauf steht. Wer das Sagen hat und wer die Moneten. Wir sind gierige Geier des Scheinbaren. Wir mästen uns am grell Authentischen. Das erhöht unser Lebensgefühl." Sie heißt "Ich weiß Bescheid", und es geht um die Schmuddel- und Skandalpresse in L. A.

Ellroy gehört zu den wenigen US-amerikanischen Dichtern, die die Anschläge des 11. September 2002 und die folgenden Kriege bereits literarisch angegangen sind. Das Ergebnis ist "Dschihad in der Dschungelstadt", die letzte Story des Buches, und in ihr kommt es zum Showdown zwischen fanatisch-faschistoiden Polizisten und vergnügungsgeilen, sexbesessenen Islamisten. Beide Gruppen wiederum haben es mit einem Gotteskrieger zu tun, der noch Darsteller für seine Bin Laden gewidmeten Metzelpornos sucht. Das ist die Welt Ellroys, in der es manchmal sogar noch Gute und Böse gibt. Nur geben sie sich nicht zu erkennen.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien zuerst in der "taz" Nr. 7691 vom 16. Juni 2005. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.

Titelbild

James Ellroy: Endstation Leichenschauhaus. Neue Geschichten aus L. A.
Übersetzt aus dem Englischen von Stephen Ree.
Ullstein Verlag, Berlin 2005.
375 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3550086148

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