Dschungelbücher

Jerome Charyn schreibt seine Isaac Sidel-Story weiter

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das ist kein Krimi, und hier gibt es auch keinen Fall zu lösen. Wer hat das auf den Umschlag von Jerome Charyns "Le Bronx" geschrieben? Irgendjemand im Verlag wohl. Und warum? Jerome Charyn schreibt seit 1973 an diesem merkwürdigen, dunklen, gewalttätigen Soziotop herum, das er New York nennt. Er schreibt von der Wildnis, der Wüste, der Dünenlandschaft, dem Dschungel, wie Bert Brecht das wohl genannt hätte, und kreiert dabei ein Bild, das nur zufällig Ähnlichkeiten mit lebenden und von anderen erfundenen New York-Bildern hat. New York, die Wallstreet-, die Kultur-, die Medien-, die Schickimickistadt? Davon ist hier nur ausnahmsweise etwas zu lesen.

Der Rotbuch Verlag hat sich zwar nicht diesem Autor (Charyn hat in Deutschland auch brillante Bücher bei Claasen und Alexander Fest herausgebracht), aber immerhin dieser Reihe verschrieben, und das ist ein guter Zug. Denn die Romane um Isaac Sidel sind guter Stoff in der - nennen wir sie behelfsweise so - Krimilandschaft. Aber einen Fall? Den gibt es hier nicht. Den hat es nicht in "Blue Eyes", dem ersten Roman der Reihe, gegeben und den gibt es auch nicht im neunten Roman um den Polizisten, Polizeipräsidenten und schließlich Bürgermeister Isaac Sidel, "El Bronx". Selbstverständlich, es gibt eine Menge Tote und die dazugehörigen Mörder. Charyn lässt seine Figuren auch nicht zimperlich sein: Einem der Gang-Captains wird ins Auge geschossen, andere Akteure werden zusammengeschlagen, niedergemäht, ermordet, Kehlen werden aufgeschlitzt und Jungs erwürgt. Es kann jeden treffen. Das ist eine düstere und gewalttätige Welt, in der Rechnungen gestellt werden und gezahlt wird, immer mit großem Geld. Und es gibt auch immer einen Feldzug, den Sidel führt. Aber gegen wen, das wird nie klar. Gegen seine eigenen Cops, die mordend durch die Bronx ziehen und den Gangs helfen, sie zu kontrollieren? Gegen die Gangs selbst? Gegen den Drogenhandel? In vielen Fällen führt Sidel den Krieg immerhin für etwas, für die Straßen- und Gangkids, für die verwüsteten Viertel der Stadt, die missioniert und zivilisiert werden müssen. Sidel ist ein mordender Romantiker, ein Engel, dem auch das Blut, das er vergießt, und die Toten, die er zurücklässt, nichts anhaben können.

Das klingt nach den großen, alten Geschichten, und genauso ist sie erzählt. Hier gibt es keine Psychologie, Helden haben kein Unterbewusstes, sie sind Monolithen, die unberührbar sind, solange sie leben, und untergehen, wie Große in der alten Welt untergegangen sind. Hier wird sogar mit dem Schwert gekämpft, auch wenn es nur aus Holz ist. Sie haben ihre Mythen, ihre Kriege, ihre Opfer und ihre Erlöser - sie werden festgehalten für die Ewigkeit: Die Bronx hat einen Chronisten, wie alle alten Völker, nur dass Abner Gumm, "Shooter", mit einer billigen Touristenkamera herumläuft. Wenn sie gefallen sind, wird ihnen ein Denkmal gesetzt, von einem wie Aljoscha, Angel Carpenteros, mit allem, was dazugehört, dem Namen des Helden und den Mäzenen, die sein Denkmal gestiftet haben. Und dass es einen gibt, der diese Geschichten schreibt und aufschreibt, gibt dem Ganzen nur eine weitere Volte. Aber das nur nebenbei.

Kriege werden hier geführt wie in den Heldenepen, genauso unerbittlich, tödlich, hasserfüllt und kalt, bis zum selben absehbaren und desaströsen Ende, wie es der Untergang der Nibelungen war. Nur ist am Ende diese Welt nicht öd und menschenleer. Sie bleibt immer bevölkert, überbevölkert. Hier wird nicht unterschieden zwischen Erwachsenen und Kindern. Dazu ist keine Zeit. Die Kids haben nichts gesehen außer ihrer Straße, ihrem Viertel, sind genauso Rekruten, Soldaten, Captains und Fürsten wie die Erwachsenen. Nur, sie werden nicht alt, ein Neunzehnjähriger ist schon ein Weiser unter ihnen. Diese Welt ist kompliziert, undurchsichtig, nicht zu begreifen. Es gibt keine klaren Verhältnisse. Gut, böse? Passt nicht. Sidel allein ist einer der übelsten Killer von Anfang an. Trotzdem ist er unangefochten, der "Große Jude", wie ihn die Straßenkids nennen, oder "El Caballo", der "Pink Commish" (der er war, solange er Polizeipräsident von New York war und der er wohl bleibt). Er verschwindet in den Höhlen, Schluchten, Urwäldern und Dünen der Stadt, die von Priestern, Hexen, Magiern, Todesengeln, Warlords, Flintenweibern, Bankiers und Politikern auf der Flucht bevölkert ist. Hier gelten strenge Regeln, vieles, was man nicht tut, und gegen das Meiste nicht zu verstoßen ist nahezu unmöglich. Deshalb ist Macht so wichtig, werden Truppen rekrutiert, die Territorien erobern, besetzen, beherrschen und verlieren. Machiavelli hätte hier unendlich viele Studienobjekte. Am Ende steht schließlich nur eine soziale Szenerie, die auf den ersten Blick genauso aussieht, wie die, von der wir zu Beginn lasen. Aber auf die Verschiebungen, auch wenn sie noch so klein sind, kommt es an. Es gibt keinen triumphalen Sieg des Guten und seines Protagonisten, seines Vorkämpfers. Nur eine kleine Veränderung, für die es sich lohnt weiterzumachen. Wir erinnern uns, Sidel ist ein Romantiker, ein Missionar, er ist auf einem Feldzug, und wie lange der fortzuführen ist, weiß niemand, wahrscheinlich für immer. Das muss man nicht verstehen, Charyn legt es auch nicht wirklich darauf an.

Allerdings, zu entziffern und zu erklären wäre hier eine Menge. Baseballspieler streiken, die Bronx kommt auf den Hund, solange im Yankeestadion keine Spiele stattfinden, verdient auch der Stadtteil drumherum nichts weiter, also muss das Ganze schnell ein Ende finden. Spekulanten kaufen Grundstücke auf, nur wer steckt dahinter? Sidels eigene stellvertretende Bürgermeisterin? Der Sprecher der Baseballspieler? Billy the Kid, der der nächste Präsident werden will? Oder Bock Richardson? Oder Bernardo Dublin? Wer den Fluss, der die Bronx durchschneidet, gen Osten überschreitet, kommt in verlorenes Gebiet, in dem man sich auskennen muss, um zu überleben. Aber wer kennt sich schon aus? Die Frau und die Tochter des Spielersprechers sicher nicht. Warlords, Joker, Dominos, Dixie Cups - hier ist kaum der Überblick zu behalten, Polizisten-Trupps (Apachen heißen sie), die bekifft Jagd auf Gangs machen und zugleich Geschäfte mit ihnen, Killer, die sich in ihre Opfer vergaffen, ein Politiker, der Präsident werden will und seine Vergangenheit säubern muss (und sei es durch Mord). Und vor allem Isaac Sidel, ein Bürgermeister, der alles Mögliche tut. Er weint vor Rührung, schlägt sich mit zwei Sicherheitsbeamten des Gouverneurs, angefeuert von seinen Bürgern (er ist ihr Lieblingsschläger, heißt es dazu), er kreist mit dem Helikopter über der Stadt - da kann er am besten nachdenken -, er wird entführt, befreit, entführt und befreit selbst. Er ist unberührbar und unverwundbar, moralisch und unberechenbar.

Keine Ahnung, ob das hier von einer schlechten Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft handelt. Das ist auch nicht amüsant oder unterhaltend. Das, was Charyn hier macht, ist einfach nur groß. So was kann man nur lesen, wenn einem ohnehin ein bisschen schwindelig ist, wovon auch immer. So was kann man nur lesen, wie in einem bösen Traum, den man - Gottseidank - im Wachen träumt, das kann man sich auch nicht in Filmbildern vorstellen - es wäre einfach zu kompliziert.

Titelbild

Jerome Charyn: El Bronx. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger.
Rotbuch Verlag, Hamburg 2005.
210 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3434540520

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