Vom Standpunkt in der Welt

Bernhard Jensens Untersuchung über Ursprung, Kontext und Fortleben von Kants Orientierungsbegriff

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Veröffentlichung seiner Berliner Dissertation von 2001 gelingt dem Autor nichts weniger, als die eminente Relevanz einer Metapher für die Konzeption von Vernunft im Zeitalter der Aufklärung auszuweisen: In einem Aufsatz, mit dem Kant 1786 auf den so genannten Pantheismus-Streit zwischen Moses Mendelson und Friedrich Heinrich Jacobi in der "Berlinischen Monatsschrift" reagiert, wird sukzessive aus der geografischen Form der Orientierung, die ein Auffinden der absoluten Richtung des Sonnenaufgangs (dem "Orient") meint, die logische und schließlich die lebensweltliche Orientierung hergeleitet. Auf der zweiten Ebene erscheint der Satz vom Widerspruch, das etwas nicht zugleich etwas und etwas anderes, oder es selbst (A) und ein anderes (Nicht-A) sein kann, als abgeleitet aus der Erfahrung, dass es keine zwei Gegenstände an der selben Stelle im Raum geben kann. Auf der letzten Ebene schließlich kommt der Grund der Orientierung zum Tragen. Er ist zwar subjektiv, gleichwohl aber fundamental. Kant spricht von einem "Bedürfnis" der Vernunft nach Orientierung an eben einem solchen Fixpunkt. Was die Sonne dem Wanderer, ist daher Gott dem aufgeklärten Menschen: ein Fixpunkt, kein Dogma. Was Kant als "Vernunftglauben" zu plausibilisieren sucht, ist gerade keine absolutistische Vernunft (die ein absolutistisches Gotteswesen voraussetzt), sondern eine streifende, erkundende Vernunft. Es ist daher, wie Kant nie müde wird zu betonen, erst die Kenntnis der Welt, welche noch zuletzt jedes apriorische Philosophieren trägt.

Jensen hat nicht nur dieses Zusammentreffen von Naturraumkonzeption und Vernunftbegriff bei Kant bis hinein in dessen frühe Schriften über den Streit zwischen Clarke und Leibniz - zwischen absolutem und relativem Raumdenken - im Blick auf die Newton'sche Naturlehre zurückverfolgt, sondern auch die politischen Verhältnisse jener Jahre einbezogen, welche den betreffenden Text zu einem "Bravourstück" Kantischen Schreibens mache: Dem gerade verstorbenen Friedrich dem Großen folgte der weniger liberale Friedrich Wilhelm II. nach, dem Kant in seinem Aufsatz zu verstehen geben wollte, dass es die Natur der Vernunft ist, welche nach Orientierung verlangt, für deren Ausübung Aufklärung und Freiheit zentrale Bedingungen darstellen. Wie Jensen schließlich zudem zeigen kann, ist es kein Zufall, dass der Orientierungsbegriff in der Phänomenologie und philosophischen Anthropologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu neuen Ehren kommt, die als Fundament den Leib geortet hatten. Die Natur des Menschen, sein Körper, wird zum engen Verbündeten der Vernunft und gleichfalls zu ihrer Voraussetzung. Dass jedoch der Leib und seine Begierden auch eine Geschichte hat, wie Nietzsche vehement vertrat, steht dabei auf einem anderen Blatt. Es gilt mithin, was Jensen von Kants Text schreibt: die Arbeit ist ein Bravourstück.

Titelbild

Bernhard Jensen: Was heißt sich orientieren? Von der Krise der Aufklärung zur Orientierung der Vernunft nach Kant.
Wilhelm Fink Verlag, München 2003.
194 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3770537653

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