Verstörende Leseerlebnisse

Die Gerüchtemauer, zwei Erzählungen von Yi Chong-Jun

Von Friedhelm BertuliesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedhelm Bertulies

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der koreanische Schiftsteller Yi Chong-jun ist auch im deutschsprachigen Raum längst kein Geheimtipp mehr. Er ist in seiner Heimat ein berühmter Mann, mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet und hat in bisher vierzig Jahren Schreibens gut ein Dutzend Romane und über hundert längere Erzählungen verfasst. Was davon so weit in kleineren und großen deutschen und österreichischen Verlagen auf Deutsch greifbar ist, vermittelt einen ziemlich guten Eindruck von der außerordentlichen thematischen, erzählerischen und formalen Vielfältigkeit, die die Kunst Yis auszeichnet. Yi setzt sich unermüdlich für die Erhaltung traditioneller koreanischer Erzählungen und Erzählformen ein. Um sie im kulturellen Bewusstsein seiner Landsleute lebendig zu halten, schreibt er Neufassungen, Nacherzählungen und Bearbeitungen zum Teil durchaus bekannter Märchen und Legenden; oft auch von solchen Texten, die er überhaupt erst wieder ausgegraben hat.

Indem er seine Geschichten oft auch im Milieu von Künstlern, Rezitatoren und Schriftstellern ansiedelt, macht er die Schwierigkeiten, Nöte und Ängste, die möglicherweise auch seine eigene Arbeit begleiten, zu seinem Thema.

Der Autor hat an der nicht nur in Korea angesehenen Seouler Nationaluniversität Germanistik studiert und ist bestens mit europäischen Erzähltraditionen, Formen und philosophischen Strömungen vertraut, von der Romantik bis in unsere Gegenwart. So gehen in seinen Werken Elemente koreanischer und europäischer Erzählkultur eine Verbindung ein, die mitunter befremdliche, bestürzende und bizarre Leseerlebnisse bescheren, die gleichwohl viel von ihrer Fremdheit ablegen, hat man sich erst einmal auf das Weiterlesen eingelassen. In Frankreich beispielsweise fallen in Verbindung mit Yi immer wieder Namen wie Bataille oder Pauline Reage. So mag es auch kein Zufall sein, dass das instruktive Nachwort der Übersetzerinnen einige sehr kluge und überzeugend formulierte Hilfestellungen zur Lektüre des Bands bietet, indem es sich auf hier einmal tatsächlich brauchbare philosophische Positionen Michel Foucaults stützt.

In der Titelgeschichte "Die Gerüchtemauer" gerät der Erzähler, Herausgeber einer Zeitschrift, nächtens auf dem Heimweg mit einem Unbekannten zusammen, der sich reichlich gestört aufführt. Trotzdem gewährt er ihm in seiner Wohnung Nachtquartier. Am nächsten Morgen ist der Fremde verschwunden. Später stellt sich heraus, dass er aus einer Klinik geflohen war, in die er sich selbst eingewiesen hatte, und dass er dem Erzähler auch gar nicht so unbekannt ist: vielmehr ein Autor, der dem Erzähler mehrere Texte zum Abdruck in dessen Zeitschrift eingereicht hatte. Zur Publikation der Texte war es gleichwohl nie gekommen. Der Erzähler findet sie in der Schublade eines Kollegen. Die Lektüre dieser Texte nimmt einen Großteil der Erzählung ein.

In der zweiten Geschichte, "Sop'yonje" geht es um eine Gruppe von Pansori-Sängern, Künstlern, die eine sehr alte traditionelle Gesangsform pflegen. In diesem Fall handelt es sich um einen Vater und seine beiden Kinder, die von einer Vortragsgelegenheit zur anderen über Land ziehen, und darum, wie der Vater seine Kunst an die nächste Generation weiterzugeben versichert. Die maßlose Härte, die er bei der Unterweisung seiner Kinder an den Tag legt, führt dazu, dass ihm der Sohn davonläuft und dass seine Tochter, die ihm die Treue hält, das Augenlicht verliert. Der Bruder macht sich später auf die Suche nach der Schwester. Nachdem er sie gefunden hat, klären sich die näheren Umstände, die zu ihrer Erblindung führen, auf. Sie werden ein kleines bisschen weniger unerträglich, hat man sich einmal bis zu dieser Stelle auf die Lektüre eingelassen.

Die Übersetzungen sind ausgezeichnet. Beide Texte sind jedoch trotzdem nicht ganz einfach zu lesen. Das gehört aber zu ihrem Prinzip und verdient, näher betrachtet zu werden. In der "Gerüchtemauer" hemmt ein merkwürdiges Changieren zwischen Präsens und Präteritum den Erzählfluss, und man gewinnt zunächst den Eindruck, dass diesem Wechsel, so auffällig er auch ist, keine rechte Bedeutung zukommt; vielmehr möchte es scheinen, als ob die Übersetzerinnen auf der Basis ihrer Lektüre keine Gesamtsicht des Textes haben gewinnen können, aus der sie eine Übersetzungsstrategie hätten schöpfen können. Man könnte also meinen, hier sei schlecht übersetzt. Doch um sich vom Gegenteil zu überzeugen, brauchte man nicht einmal in den koreanischen Ausgangstext zu schauen, der den Befund der deutschen Übersetzung nur bestätigen würde: Der Text, den Yi selbst geschrieben hat, ist gekennzeichnet durch Anmutungen von Mündlichkeit, mit ihren Brüchen und Unvollkommenheiten, eine gewisse Kunstlosigkeit, wie sie Berichte auszeichnet. Und die hoch komplexe innere Verschachteltheit der Erzählung, der Wechsel zwischen dem Erzähler und den drei, zum Teil unvollständigen, separaten Erzählungen des kuriosen Fremden, die in die Erzählung eingefügt sind, macht die Weise, in der die ganze Erzählung dargeboten wird, beeindruckend plausibel. Die Nöte des Nichtzustandekommens von Kunstwerken, die Bitterkeit des Künstlers ohne Werke oder des Künstlers, der sein Werk nicht vollendet sehen kann, wird beim Lesen fast körperlich nachfühlbar. Man braucht sie nur ein zweites Mal zu lesen, und sie ist kurz genug, um die Bedenken der ersten Lektüre zu zerstreuen.

"Sop'yongje" dürfte die bekannteste Erzählung Yi Chong-Jun sein, und zwar nicht erst seit ihrer preisgekrönten Verfilmung aus dem Jahre 1992. Zu der Entscheidung, sie jetzt auch in deutscher Übersetzung zugänglich zu machen, kann dem Verlag nur gratuliert werden. Die Lektüre der packenden und bewegenden Geschichte lohnt sich ungemein, denn man liest nicht nur einen bedeutenden Text der koreanischen Gegenwartsliteratur, sondern hier ist deutschsprachigen Lesern tatsächlich eine Chance geboten, am Ende Korea und Koreaner auch besser zu verstehen. Dabei verlangt die Lektüre einige Geduld ab. Der Text ist dermaßen koreanisch, dass an ihm kaum etwas zu übersetzen gewesen ist. Er ist auch auf Deutsch reich an koreanischen Begriffen, zwischen denen die deutschen Wörter fast wie Fremdwörter erscheinen möchten.

Die Übersetzerinnen haben sich bravourös aus der Affäre gezogen, indem sie dem deutschen Text etliche Fußnoten beigegeben haben, die die unvermeidlichen und unübersetzbaren Begriffe aus dem Bereich der Pansorigesangstradition erklären. Das verlangsamt zunächst das Lesen erheblich. Doch die Informationen sind wirklich nötig und hilfreich, und mit jeder Fußnote wird dem Leser ein Licht aufgesetzt, das ihn bis zum Ende der Lektüre trägt.

Das Nachwort enthält einen Abschnitt mit der Überschrift "Die Auswahl". Darin hätte wenigstens am Rande erwähnt werden sollen, dass die drei "Sop'yongje"-Geschichten Teil einer Folge von insgesamt fünf Erzählungen sind, die unter dem Titel "Nam-Do Saram", "Menschen aus dem Süden", in einen Zusammenhang gehören. Neben der vierten Geschichte, "Sae-wha Namu", "Der Vogel und der Baum" ist es vor allem die fünfte, "Dashi Tae-ohna-nn Mal", "Das wiedergeborene Wort", die noch einmal den Bogen zurück zur ersten, und damit zur "Sop'yonje"-Trilogie, schlägt, und alle fünf in ein großes Ganzes fügt. Die "Sop'yongje"-Geschichten lassen sich als Einheit lesen. Sie sind aber keineswegs alles.

Titelbild

Yi Chong-Jun: Die Gerüchtemauer. Zwei Erzählungen.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Oh Soon-Hee und Birgit Mersmann.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2005.
223 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3929181622

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