Die Realgeschichte des Freundschaftkults

Gleims Halberstädter Freundschaftstempel und die Praxis Literatur im 18. Jahrhundert

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Was ist die Welt ohne Freunde? Eine Wüste Sinai", schreibt Johann Wilhelm Ludwig Gleim 1762 an Karl Wilhelm Ramler. Gleim (1719-1803) ist der Nachwelt vor allem als Vetreter eines empfindsamen Freundschaftskultes präsent geblieben. Seine Sammlertätigkeit - seine Bibliothek gilt mit über 10000 Bänden als die größte bürgerliche Privatbibliothek - konzentrierte sich besonders auf persönliche Zeugnisse und Briefe. Im Gegensatz zu Goethe, dessen Sammlertätigkeit sich am Horizont des eigenen Lebens ausrichtete, verstand sich Gleim als Archivar seines Zeitalters.

Gleims umfangreiche Korrespondenz nimmt 1747 ihren Anfang, als der in Halle studierte und später in Berlin lebende empfindsame Aufklärer eine gut bezahlte, aber auch arbeitsreiche Stelle als Halberstädter Domsekretär antrat, mit seinen fernen Freunden also nur noch brieflich Kontakt halten konnte. Seine umfangreiche Korrespondenz und der empfindsame Freundschaftskult, der sich in seinem "Freundschaftstempel" genannten Halberstädter Wohnhaus manifestierte, sind Zeugen eines halben Jahrhunderts Literaturgeschichtsschreibung. Jedoch war Gleim nicht nur bemüht, alte Freundschaften zu pflegen, sondern auch neue aufzubauen. So griff er - auch monetär - dem jungen Jean Paul oder Bürger unter die Arme, auch wenn er deren Dichtung nicht immer guthieß - ihre Qualität erkannte er wohl. Unermüdlich korrespondierte Gleim mit Freunden, die - in nahezu 130 Ölportraits verewigt - in seinem Freundschaftstempel wenigstens visuell präsent waren. Neben dem Duz-Freund Herder auch Lessing, die Karschin, Klopstock und eben Jean Paul.

Ute Pott hat diese realienbezogene Seite des literarischen Lebens unter das treffende Schlagwort vom "Jahrhundert der Freundschaft" gestellt. Als Katalog hervorgegangen aus der ersten Großaustellung des Halberstädter Gleimhauses vom 7. Februar bis zum 12. April 2004, widmet sich der vorliegende Band dem halböffentlichen Ritual des Freundschaftskultes.

Der "Aufführungscharakter von Literatur" kann zugleich als Programm gelten: indem der vorliegende Sammelband den Fundus des Halberstädter Gleimhauses zum Ausgangspunkt wie Gegenstand der Betrachtungen macht, entsteht ein anschauliches Bild der "Praxis Literatur" in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Die Palette der Themen ist weit gespannt: Sie reichen von einer Literaturgeschichte der Region am Beispiel der Dichterfreundschaft zwischen Klopstock und Gleim (Wolfgang Adam) über die Ausbildung einer spezifischen Freundschaftskultes unter dem Aspekt des Vertrauens (Wolfram Mauser), die bürgerliche Kultur des Gedenkens in Form von Monumenten oder Schriften (Doris Schumacher), der Rolle des von Johann Georg Jacobi und Gleim initialisierten Kultes des Lorenzo-Ordens (Achim Aurnhammer) hin zu Gleims Freundschaft mit den Komponisten Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Friedrich Reichardt (Gerlinde Wappler).

Insgesamt verschaffen die einzelnen Beiträge nicht nur einen guten Überblick über den Stand der Forschung, sondern geben auch vielfältige Anregungen. Eine Übersicht zu Gleims Leben, Werken und Freundschaften in Form eines Panoptikums rundet das Buch ab. Hervorzuheben ist auch die vorbildliche Ausstattung: Die Vielzahl meist farbiger Abbildungen sind detailliert erläutert und stehen oftmals in direktem Bezug zu den einzelnen Beiträgen. So bereichert der vorliegende Band in seiner Anschaulichkeit das Bild von der deutschen Gelehrtenrepublik und deren Versuch, privat Öffentlichkeit herzustellen und so jenseits der höfischen Günstlingswirtschaft und deren "Heuchlerzunft" (Hagedorn) oder "Lügenbrut" (Schiller) eine bürgerliche Gesellschaft zu bilden.

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Ute Pott (Hg.): Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2004.
144 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3892446830

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