Unsere kleine Paralleldimension

Norbert Scheuer hebt mit "Kall, Eifel" seine literarische Welt aus den Angeln

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Delamot hat einen kleinen, heruntergekommen Friseursalon. Es ist der einzige in Kall, einem kargen Städtchen in der Nordeifel. Delamots Alltag ist bedrückend, denn genau wie das Kalkwerk, die trüben Forellenteiche und die Kirmes, zu der Jahr für Jahr weniger Besucher kommen, ist der alte Mann ein Fossil, dessen Zeit abgelaufen ist. Eines Tages zieht eine Frau die Stadt zurück, mit der Delamot eine Affäre hatte. Delamots Tochter Edith geht fortan Tag für Tag am Friseursalon vorbei zur Schule. Delamot schweigt, dekoriert nur das Schaufenster um, "was dabei herauskam, entsprach eher einem Puppenladen als der Dekoration eines Friseurgeschäfts".

Vater und Tochter leben nebeneinander her, aneinander vorbei, einmal schenkt er ihr eine Haarspange, zu erkennen gibt er sich nicht. Edith ist bereits eine junge Frau, da nimmt er seinen Mut zusammen und macht ihr die Haare, umsonst - und bringt dann doch kein Wort heraus. "Er öffnete ihr nur die Tür, machte eine Verbeugung und sah ihr nach, wie sie hinunter zur Eisdiele lief, wo bereits der junge Mann wartete, mit dem sie einige Tage später Kall verließ."

Der verstockte Friseur ist nur eine von dreißig, vierzig Figuren, deren Lebenswege Norbert Scheuer in "Kall, Eifel" nachzeichnet. In ultrakurzen Geschichten entwirft Scheuer ein Provinzpanorama, so poetisch wie brutal. Alle kennen einander, alle teilen Geheimnisse, überall blitzen alte Wunden auf, und immer wieder werden neue Querverbindungen sichtbar. "Kall, Eifel" wechselt alle zwei, drei Seiten den Fokus, konzentriert sich auf eine andere Figur in einem neuen Zeitrahmen, spannt den Bogen vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, und die kühle Erzählstimme schweift wie eine Steadycam durch ausgestorbene Ladenzeilen, hinein in schmuddlige Haushalte, bis ganz nach unten, in die Schächte des Bergwerks. Oder in Delamots Keller: "Die Haare schwebten und rieselten auf den Boden, wo Delamot sie heimlich und sehr behutsam mit der Schuhspitze in die Nähe der versteckten Kelleröffnung an der Wand scharrte. Die Haare all seiner Kunden, und das waren über viele Jahre hinweg fast alle Leute aus Kall und den umliegenden Dörfern, schwebten so in den Keller hinab, wo ein riesiger Haarschopf wuchs, der für Mäuse, Blindschleichen, Asseln und anderes Getier die angenehmste Behausung bot."

"Kall, Eifel" könnte auch "Kall, revisited" heißen. Denn das Städtchen und seine gebeutelten Einwohner wurden bereits in den ersten beiden Romanen von Norbert Scheuer, "Der Steinesammler" (1999) und "Flussabwärts" (2002), vorgeführt. Scheuer ist nur nebenberuflich Schriftsteller. Er arbeitet als Systemprogrammierer und setzt in regelmäßigen Abständen dem Ort, in dem er geboren wurde und jetzt mit seiner Familie lebt, literarische Denkmäler. Eine Provinztrilogie, deren (vorläufig?) letzter Teil viele etablierte Figuren aufgreift und neu verknüpft, sehr fragmentarisch, sehr kühl.

Ein Mosaik aus Miniaturen, die in ihrer Ökonomie und durch die knochentrockenen letzten Sätze an Cheever oder Carver erinnern, an US-short stories also, und natürlich an "Winesburg, Ohio", Sherwood Andersons großes Provinzpanoptikum: stimmungsvoll, nüchtern - und doch durchzogen von einer starken Metaphorik, einem poetischen Sog. An einigen Stellen droht die Ansammlung von privaten Katastrophen ins Melodramatische abzukippen. Oder in den Kitsch.

In "Bussard" zum Beispiel, wo zwei Freunde einen verletzen Raubvogel über den Winter gesund pflegen wollen und ihn dann am Rand des Steinbruchs in die Freiheit entlassen: "Martin ging an den Bruchrand, streckte den Arm aus und ließ den Bussard los, er taumelte in den Bruch hinunter, verschwand hinter einem Felsvorsprung. "Er liegt jetzt im Dreck", sagte Martin." Ist das wirklich nötig? Pleiten, Pech und Pannen auf dem Dorf, eine endlose Serie von Texten ohne Happy End?

Norbert Scheuer reichert seinen Erzählkosmos um weitere Details an, doch insgesamt tritt er, wie seine Figuren, auf der Stelle. "Kall, Eifel" ist lediglich eine Art "Erweiterungspack", ein "Add-On" zu den ersten beiden Romanen, und bei dem dritten melancholischen Schöngeist mit Schriftstellerambitionen, der fünften vom Leben gebeutelten einsamen Arbeiterfrau fängt es an, dröge zu werden: Die Texte sind sehr formelhaft aufgebaut, vom packenden Einstiegssatz über das meist titelgebende vieldeutige Leitmotiv ("Armbrust", "Gewitter", "Allerseelen") bis zum lakonischen Abschlusssatz: just the faces change. Irritierend auch, dass Braden und Leo, den Hauptfiguren der ersten beiden Bücher, verhältnismäßig viel Platz eingeräumt wird: Eigentlich sind ihre Geschichten bereits erzählt. Doch Scheuer lässt sie wieder und wieder durchs Bild huschen. Trotzdem: "Kall, Eifel" enthält etliche Perlen, kurze Geschichten fast greifbarer Schönheit, dunkel, rührend und trotzdem fernab von romantisierender "Unsere kleine Stadt"-Literatur.

Nur in seiner Gesamtheit kann "Kall, Eifel" leider nicht überzeugen: Das Mosaik ergibt kein stimmiges Gesamtbild, sondern ein Durcheinander wie das Riesengewölle in Delamots Keller. Das liegt vor allem an kleinen chronologischen Unstimmigkeiten: "Flussabwärts"-Protagonist Leo erzählte seine Geschichte im Vorgänger als Rückblende, der Roman schien Ende der 70er Jahre zu spielen. Nun trifft derselbe Leo, immer noch pubertierend, Mädchen mit Piercings, die zum Snowboarden fahren. Und beim "Hahnenköpfen", einem archaischen Dorfbrauch, wird gleich auf den ersten Seiten des Buches mit Euro gezahlt, obwohl der Text im Gesamtkontext eindeutig in einer schon recht fernen Vergangenheit angesiedelt ist - Sinn ergäbe all das nur, würde Scheuers Romantrilogie verschiedene Paralleldimensionen beschreiben. Um bei der Computer-Metapher zu bleiben: feinste Texturen, perfekt gerenderte Grafik - nur leider ein paar fiese Bugs beim Levelaufbau.

Die Geschichte des Bussards übrigens ist noch nicht zu Ende: "Aber dann hörten sie sein langes helles Schreien, er glitt an den Kalksteinfelsen entlang und schwebte dicht an ihnen vorbei. Als er über dem Wald war, griffen ihn Krähen an. Er schraubte sich höher und höher, bis er nur noch ein winziger Punkt für die Freunde war."

Für Scheuers Verhältnisse ist dieser Ausklang entschieden gnädig. Und gerade durch diese Hoffnungssplitter, Fragmente schlichter Poesie, gelingt er dann schließlich doch, der große Wurf: "Kall, Eifel" fliegt. Nicht makellos. Aber gut genug, um den Roman über kleinere Programmierfehler weit hinwegzuheben. Lesenswert!

Titelbild

Norbert Scheuer: Kall, Eifel.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
190 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3406535542

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch