Unter Geiern

Zur ersten Ausgabe der Nietzsche-Schriften Oscar Levys in deutscher Sprache

Von Hans von SeggernRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans von Seggern

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Geier von heute heissen Nazis. Sie haben Vogelhirne, ganz wie ihre Professoren und Literaten: sie stellten die Statue des grossen Europäers in ihr lokales Walhalla und sie warfen die Bücher des ersten Hellenen auf ihren teutonischen Scheiterhaufen. Aber wer weiss, wer mehr zu bedauern ist: der Heine, dem sie am Lorbeer nagen, oder der Nietzsche, den sie mit ihrer Liebe plagen", heißt es in einem im Dezember 1936 in Leopold Schwarzschilds "Neuem Tage-Buch" erscheinenden Essay, der mit dem eigentümlichen Pseudonym "Defensor Fidei" unterzeichnet ist. Dahinter verbirgt sich der Mediziner und Publizist Oscar Levy (1867-1946), der bereits seit 1892 das britische Exil einem Leben im Deutschen Reich vorzieht. Der unlängst erschienene Band "Nietzsche verstehen", herausgegeben von Leila Kais und Steffen Dietzsch, versammelt erstmals ein gutes Dutzend Essays Levys, die ab 1925 vorwiegend im "Tage-Buch" erscheinen, das im Pariser Exil als "Neues Tage-Buch" zu einer wichtigen Institution deutschsprachiger Emigranten wird. Während im deutschsprachigen Raum der Nietzsche-Rummel unter dem Matriarchat von Elisabeth Förster-Nietzsche ausgebrochen ist, wird der Philosoph des "Willens zur Macht" im England des 1. Weltkriegs zum Inbegriff des preußischen Militarismus. In dieser Konfliktlage muss es als ein imponierender Alleingang erscheinen, wenn ein deutscher Jude im britischen Exil zum Herausgeber der ersten englischen Übersetzung der Werke Nietzsches wird. Ein Alleingang, den Levy 1921 mit der Ausweisung aus seiner Wahlheimat büßt. Gegen den erschreckend erfolgreichen Versuch, dem Kosmopoliten Nietzsche einen "schwarz-weiß-roten Anstrich" zu verleihen, setzt Levy eine authentischere Lesart, die diesen in eine andere Tradition stellt: diejenige Spinozas und Heines. Die Versuche einer Verteidigung Nietzsches gegen nationalistische Umarmung diesseits und anti-deutsches Ressentiment jenseits des Kanals gehören zu den spannendsten Passagen dieser Essayistik, die trotz des Ernstes, mit dem "Defensor Fidei" vorgeht, mit französischer Leichtigkeit daherkommt.

Sämtliche politische Ideologien seiner Zeit lehnt Levy ab, insbesondere den Nationalismus, auch in der Form des Zionismus. Es geht ihm darum, die Genealogie nationaler Chauvinismen zu verstehen. Diese erscheinen ihm nicht als Einfall kulturfremder Barbaren, sondern er begreift sie im Rahmen eines geschichtsphilosophischen Narrativs, das den Keim des Übels in der jüdisch-christlichen Zivilisation selbst verortet. Levys Weltgeschichte ist nicht die Fabel des sich in der Historie materialisierenden Geistes und am allerwenigsten die Selbstverwirklichung der "arischen Rasse" auf Kosten anderer. Bei ihm steht der Mythos vom "auserwählten Volk" am Beginn einer Geschichte, der ihre Urheber am Ende selbst zum Opfer fallen. In dieser Hinsicht sind Levys Schriften erschütternde Dokumente jüdischen Selbsthasses. Ein Mann des 19. Jahrhunderts ist er, insofern er dem Leser eine weitere historische Metaerzählung anbietet. Mit Nietzsche verabscheut er das Christentum als "Judentum fürs Volk", das gefährliche Fundamentalismen aller Art gebiert, allen voran den des Nationalismus und den des Kommunismus. Und mit Nietzsche bewundert er das Diaspora-Judentum als das "europäische Element", das die Europäer von ihren Nationalismen wird erlösen können.

In seinen Essays, die die Ausgabe des Parerga Verlages nunmehr erstmals in deutscher Sprache komplett ediert, präsentiert sich Levy als Erfinder des politisch Inkorrekten, der sich zielsicher zwischen alle Fronten begibt. Dass Oscar Levy von Autoren wie Hermann Kesten, George Bernard Shaw und den Brüdern Mann geschätzt wurde, schadet seinem Ruf nicht, insofern wird hierauf mit Recht von den Herausgebern im apologetisch verfassten biografischen Anhang verwiesen. Trotz aller Verdienste dieses Fundes müssen sie sich gleichwohl die Frage gefallen lassen, ob sie ihrem Autor nicht etwas Gutes getan hätten, wenn sie Latte etwas niedriger gehängt hätten: Gehört der große Stilist und Provokateur Levy wirklich in diese erste Reihe?

Im Rahmen der auf sechs Bände angelegten Werkausgabe soll noch in diesem Herbst Levys philosophisches Hauptwerk "The Idiocy of Idealism" (1940) in deutscher Übersetzung erscheinen; ein Buch, nach dem man in deutschen Bibliotheken bislang vergeblich fahndete.

Titelbild

Oscar Levy: Nietzsche verstehen. Gesammelte Schriften und Briefe. Bd. 1: Essays aus dem Exil 1913-1937.
Herausgegeben und mit einem Vorwort von Steffen Dietzsch und Leila Kais.
Parerga Verlag, Berlin 2005.
356 Seiten, 34,20 EUR.
ISBN-10: 3937262121

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