Terminal - Vom schleichenden Zerfall des Lebens

Mit "Pluton oder die letzte Reise ans Meer" gelingt dem Quereinsteiger Sebastian Schinnerl ein verblüffendes Romandebüt

Von Ulrike MatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Matzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ausgerüstet mit einem Koffer voller Geld und Vorräten an Edelweinen und Zigarren, verlässt der beinah hundertjährige Dr. Heinrich Sauvegarder im Taxi seine Stadt, in der er sich als Investmentbanker an die Spitze gekämpft und gut gehalten hat. Vor ihm liegt der Ruhestand, in einer als Luxus-Altersresidenz getarnten Pflegeanstalt für betuchte Leute. Absehbar ist bald: Die Fahrt stellt nur den Anfang vom Ende dar. Ab nun geht es einen dunklen Schacht hinunter. Ohne Rückkehr, ohne Ausweg.

Bis zum finalen Punkt indes sind dem Ich-Erzähler kecke Selbstermächtigungs- und Ausbruchversuche möglich - die freilich zunehmend in Peinlichkeit und Demütigungen scheitern. Das aussichtslose Schlingern seines in der Tragikomik recht sympathischen Protagonisten ist dem Autor das Vehikel, seine Poetik eines Abgangs in kleinen Episoden zu entfalten.

Das Betagtenheim also: ein geschlossenes aseptisches System, nicht unähnlich der Sanatoriumswelt des "Zauberberg", und ähnlich exaltiert geben sich die Personnagen: blutleere Wesen wie die nervtötende Etagengouvernante Schwester Rävenstraal ("sachlich extrasauber bügelfrisch", "eine gegossene Rüstung Gottes") oder Dr. Strösser mit der Qual der Wahl zwischen Zyprexa und Remergil; ihnen ausgeliefert Medikamentenproband Marlon Manser, Klara, die ihr Herz nicht spürt, abgewrackte Diven auf Erholung und andere "lebtags Verstorbene" - terminale Fälle, wie Todgeweihte im Pflegejargon heißen. Eine esoterisch durchdesignte, unterkühlte Hightech-Burg, in der wie in Plutons Totenreich Schatten ohne Fleisch und Bein herum zu geistern scheinen; Gesichte und Phantome, die sich wieder auflösen und abdampfen. So (ver)west ein Herr Uhlsamen als "haustierhafter Mitbewohner" und (un)toter Intimgeist im Zimmer Sauvegarders, auf dessen Sofa kauernd, übel riechend, zunehmend zerfallend - als Widerpart im Spiegelgefecht des Bankers gegen dessen eigene Selbst-Zerbröselung.

Ausgesetzt dem diagnostischen Blick, fürsorglich umhütet und belagert wird jegliches Wollen kaltgestellt. Doch Sauvegarder hat seinen Dünkel und sucht sich seine Würde zu bewahren. Die Männlichkeit hält ihm zumindest eine Churchill-Zigarre hoch, bei drohendem Kontrollverlust gibt ihm ein Blick in die Börsenzeitung Halt: "Ich schlug sie auf und las, Wort für Wort, Satz für Satz, wohltuende Stabilität". Im Zyklus von Hausse und Baisse geht es denn auch sinuskurvenartig auf und ab mit ihm, tendenziell aber stetig degressiv.

Kommt die Sprache auf den Tod, erwachen Bub und Mann und Frauenheld in Sauvegarder zum Leben; Sehnsüchte ballen sich, mitunter erwischt ihn Übermut, der ihn in eine (Schein-)Welt voller Abenteuer zieht, aus der er bald aber wieder barsch zurückgerissen wird. Im Manövrieren zwischen verwegenen Erkundungsreisen und zielgerichteter Zermürbung unter Kontrolle und Isolation wirft es den Alten ganz schön an die Banden. Dabei spielen sich Burlesken und groteske Dramolette ab; eigenartige Figuren flottieren als personifizierte running gags durch den Roman, wie die graue "Kriegsfregatte" eines stichelnd-stacheligen Sittendamenduos.

Erzählt ist dieser sukzessive Ab- und Niedergang in einer Sprache, die feststellt, was der Fall ist - und die gerade in der Einfachheit frappierend einprägsame oder ganz schön schräge Bilder findet. Undurchschaubare Bilder auch, die zwischen Tatsächlichem und subjektivem Schein in der Schwebe bleiben. Schon nach den ersten zwei, drei Seiten merkt man, dass es sich um etwas sehr Spezielles handelt. Ein Erzählen von unerhörter Leichtigkeit und Sicherheit.
Der 1960 geborene Sebastian Schinnerl, der als Ingenieur in St. Gallen lebt und lehrt, ist in Bezug auf den Literaturbetrieb ein Quereinsteiger - wiewohl er seit 20 Jahren für sich selber schreibt, "wie andere aus Lust auf der Gitarre zupfen". Etwas wuchern lassen, um es hernach strukturierend zu verdichten, sei ihm der Reiz am Schreiben, so wie sein Held sich schrullig hadernd müht, konsequent Koordinaten in sein in Auflösung begriffenes Restdasein zu legen. Und trotz der klaren Strukturierung besticht die nuancierte psychologische Entwicklung der Figuren.

Dem Autor gelingt nicht nur ein einfühlsamer, stellenweise sogar philosophischer Roman über das Altern, den Umgang mit Selbstentfremdung, demenzbedingtem Ich-Zerfall und nahem Tod. Was auffällt ist die feine Arbeit an der Sprache. Das Vermögen, ohne Sentiment mit präziser Poesie Dichte herzustellen, gibt dem Buch eine Innigkeit, die es leuchten lässt. Anklänge an Robert Walser, nur heutiger, ertönen nicht allein im leicht versch(r)obenen Schweizer Idiom. Auch das Sensorium für feinste Regungen, der Blick aufs Kleine und Beiläufige; das sich im Sehnen Aufbauende, das dann kümmerlich in sich zusammenfällt, die von eigenem Humor durchwobenen Gespinste lassen ihn seinem Landsmann ähneln. Doch eigentlich hat der Roman Vergleiche gar nicht nötig.

Sebastian Schinnerls Schilderung des Übergangs vom Menschsein zum finalen Fall ist so nüchtern wie subtil und sinnlich, so verhalten wie raffiniert und bilderreich zugleich. Ein Name, den man sich merken, ein Buch, das man lesen sollte.

ISBN 3-7017-1421-5


Titelbild

Sebastian Schinnerl: Pluton. Die letzte Reise ans Meer.
Residenz Verlag, Salzburg 2005.
256 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-10: 3701714215

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch