Wundervolle Polyphonie

Zu Katrin Scheffers und Norman Rinkenbergers "Goethe und Hofmannsthal. Facetten analogischer Dichtkunst oder Wo versteckt man die Tiefe?"

Von Joachim SengRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Seng

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Goethe ist nicht der Quell von diesem und jenem in unserer neueren Literatur, sondern er ist ein Bergmassiv, und das Quellgebiet von all und jedem in ihr", bekannte Hugo von Hofmannsthal in seinem "Buch der Freunde", und für ihn und sein Werk galt dieser Aphorismus in besonderem Maße. Wie ein roter Faden zieht sich die produktive Auseinandersetzung mit Goethes Werk durch seine Dichtung. Über seine Goethe-Ausgabe, die Cotta-Ausgabe von 1840 aus dem Besitz seines Großvaters, schrieb er einmal: "meine geliebten 40 Bände, wie kleine Hausgötter. wie sie immer wieder vollzählig zusammenkommen. ihr zusammenkommen hat etwas olympisches. die wundervolle Polyphonie".

Dieser "wundervollen Polyphonie", die ihre Wirkung nicht allein im lyrischen, sondern auch im erzählerischen und dramatischen Werk Hofmannsthals hinterlassen hat, gehen Katrin Scheffer und Norman Rinkenberger in ihrem anregenden Aufsatzband an ausgewählten Beispielen nach. "Goethe und Hofmannsthal" bedeutet hier allerdings nicht, daß in einer systematischen Studie dem vielschichtigen Verhältnis beider Dichter nachgegangen wird. Vielmehr präsentiert der Band drei größere Aufsätze, die sich verschiedenen Facetten annehmen und dabei nicht nur auf Goethe-Bezüge bei Hofmannsthal verweisen, sondern eben auch auf verwandte Strukturen und Spuren im Werk der beiden Dichter. So widmen sich die beiden Autoren in ihrem ersten Aufsatz allein Goethes Gedicht "An Werther" aus der "Triologie der Leidenschaft", allerdings ohne dabei ihr Thema aus den Augen zu verlieren. Denn die Analyse des in der Forschungsliteratur selten allein behandelten Goethe-Gedichts beleuchtet die komplexe intertextuelle Struktur der 1824 entstandenen Verse und zeigt, wie Goethe hier Reflexionen über seine eigenen, früheren Dichtungen - etwa die "Zueignung" zum "Faust" und das Drama "Torquato Tasso" - anstellt und dabei ein poetisches Verfahren anwendet, das auch für den knapp 50 Jahre nach Goethes Tod geborenen Dichter des Fin de siècle noch von Bedeutung war.

Allerdings führt der Untertitel des Buchs ein wenig in die Irre, weil das Stichwort "analogische Dichtkunst" gleich an Karl Kraus denken lässt, der 1923 in seiner Zeitschrift "Die Fackel" gewohnt bissig über "Goethe und Hofmannsthal" reimte:

Will Hofmannsthal Goethes Entwicklung begleiten,
so wirkt es noch in die fernsten Zeiten.
Was immer auch dieser jenem leiht,
es reicht für beider Unsterblichkeit.
Müssen die, die späterhin beide lesen,
denn wissen, welcher der Ältre gewesen?
Die hundert Jahre, welche dazwischen,
werden weitere hundert wieder verwischen.
Nach tausend aber ist's schon egal,
ob Goethe oder Hofmannsthal.

Kraus' Sinn für Humor in allen Ehren, doch in der Beurteilung der "Wahlverwandtschaft" zwischen Hofmannsthal und Goethe lag er falsch. Das machen die beiden Autoren des Buches bereits in ihrem instruktiven Vorwort deutlich, indem sie auf Hofmannsthals lebendige und produktive Auseinandersetzung mit dem goetheschen Werk hinweisen, die nichts mit Epigonentum zu tun hat. Hofmannsthal hat seine Form der produktiven Aneignung in einem Brief an den Dichter Richard Dehmel aus dem Jahr 1893 vielleicht am besten selbst beschrieben: "Was den Herrn Geheimrath betrifft: das ist ein erlauchtes und wundervolles Gespenst und wenn das einmal zu einem kommt und mit einem durch die Nacht fliegen will, so soll man sich nicht wehren und sperren, sonst versäumt man viel: es fliegt mit einem durchs Fenster, da schwebt man mit nackten Füßen und streift über die Wipfel der schwarzen rauschenden Bäume hin und spürt viel vom Saft und Sinn der Dinge, und ist ein großer seltener Rausch. Seinem goldenen Wagen aber nachzulaufen, fällt mir für gewöhnlich nicht ein: sehen Sie dieses 'Gestern' an; das hat in seinem dürren nervösen Ton gar nichts von Epigonenrhythmus."

Was literarische Aneignung bei Goethe und Hofmannsthal bedeutet, lässt sich nirgends besser zeigen, als an der Erzählung "Erlebnis des Marschalls von Bassompierre". Denn hier bedienten sich beide Dichter der gleichen Vorlage, einer Episode aus den Memoiren des Marschalls von Bassompiere aus dem 17. Jahrhundert, und machten daraus jeweils einen eigenständigen literarischen Text. Während Goethe seine Novelle in die Rahmenhandlung der "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" einbettet, gestaltet Hofmannsthal eine autarke Erzählung und greift in den Aufbau und Inhalt der doppelten Vorlage (Bassompierre und Goethe) stark ein. In ihrer präzisen und textnahen Analyse, arbeitet Katrin Scheffer die unterschiedlichen Modelle für den Umgang mit dem Ausgangstext deutlich heraus. Während Hofmannsthal die Vorlage ins 20. Jahrhundert übersetzt, indem er den einzelnen Figuren psychologische Tiefe verleiht und ein in sich geschlossenes, dichtes Erlebnis entwickelt, bettet Goethe die Episode in eine neue Rahmenhandlung ein, aus der sie eine eigene Dynamik bezieht.

Von der besonderen Dynamik der "Wahlverwandtschaft" zwischen Goethe und Hofmannsthal zeugt besonders eindrucksvoll die Beziehung der beiden Dichter zu Singspiel und Pantomime. In der Forschungsliteratur wurde dieses Thema bislang nur stiefmütterlich behandelt, weshalb man Norman Rinkenberger für seinen beachtenswerten Beitrag über das "mimische Wort" bei Hofmannsthal besonders dankbar sein muss. Bereits im Jahr 1891 dichtete der junge Hofmannsthal: "Doch aller Gedichte Vollendung ist - / O glaube mir, - ein getanztes Gedicht". Damit wies er auf ein Thema hin, das ihn zeitlebens intensiv beschäftigte: seine Affinität zu Ballett, Pantomime und Oper und damit den gebärdensprachlichen, nonverbalen Formen der Kommunikation. Gerade erst widmete die Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft unter dem Titel "Das stumme Spiel und die Musik" diesem wichtigen Thema eine Tagung.

Zu Recht weist Rinkenberger auf Hofmannsthals "Einleitung zu einem Band von Goethes Werken, enthaltend die Singspiele und Opern" hin, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs entstand. Nicht ohne Grund hat der Dichter diesem Text Goethes Wort "Musik füllt den Augenblick am entschiedensten" als Motto vorangestellt, und es ist charakteristisch, dass Hofmannsthal - bei aller Wertschätzung für Goethes "Der Zauberflöte zweiter Teil" - weit mehr die Prosatexte das "Märchen" als eine "erzählte Oper" (Novalis) und vor allem das Drama "Faust II" preist, das "eine Kette von Festen und Feierlichkeiten" sei und "als Ganzes genommen, das Fest aller Feste und, da er auf Schritt und Tritt Musik postuliert, die Oper aller Opern". Man muss diese Äußerung wörtlich nehmen, denn was die nicht vorhandene Musik im Ohr des Rezipienten erklingen lassen sollte, war für Hofmannsthal der "Schritt und Tritt" der handelnden Figuren, ihre Gestik und Mimik in einer festlichen Umgebung; sie geben "gebundenen Schrittes, einen feierlichen mimischen Tanz, sie wandeln, und so wie sie wandeln, machen sie Musik". Unwillkürlich denkt man hier an Max Reinhardt, der die Stücke (und Opern) für Hofmannsthal zu inszenieren verstand und der mit ihm und Strauss gemeinsam zu den Initiatoren der Salzburger Festspiele gehörte, in deren Mittelpunkt ursprünglich Mozarts sämtliche Opern und Goethes "Faust" stehen sollten.

Doch nicht allein in der Oper, auch im Drama setzt Hofmannsthal die nonverbalen Mittel der Schauspielkunst virtuos ein. Etwa im "Schwierigen", wo die wortlosen Pantomimen Hans Karls sein Innenleben enthüllen. Mit einigem Recht sieht ihn Rinkenberger in der "Umgebung des Philipp Lord Chandos" und weist auch darauf hin, dass sich auch in Goethes "Clavigo" pantomimische Stellen von vergleichbarer Intensität finden - etwa jene Szene zu Beginn des 2. Aktes, in der Clavigo auf die Erzählungen des Beaumarchais mehrfach körperlich reagiert.

Man muss dem Tectum Verlag dankbar sein, dass er den beiden jungen Marburger Germanisten Gelegenheit gab, ihre Beiträge zu Goethe und Hofmannsthal in einem Band zu versammeln und vorzulegen. Jedenfalls lässt sich für die drei Aufsätze der Aphorismus Hofmannsthals anführen, der auch im Titel des Buches leicht verfremdet wurde: "Die Tiefe muß man verstecken. Wo? an der Oberfläche".

Titelbild

Katrin Scheffer / Norman Rinkenberger: Goethe und Hofmannsthal. Facetten analogischer Dichtkunst oder Wo versteckt man die Tiefe?
Tectum Verlag, Marburg 2005.
199 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 382888850X

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