Die Ermüdung Außenwelt

Jean-Philippe Toussaints Roman "Der Photoapparat" als Einführung in die Schwierigkeit des Seins

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits 1988 erschien der Roman des belgischen Autors im französischen Original. Mit einiger Verspätung liegt nun der von Joachim Unseld ins Deutsche übertragene Text vor, der erfreulicherweise kaum die fremdsprachige Vorlage verrät. So stutzt der Leser, wenn von einem "etwas lustigeren Schweinskram" die Rede ist - eine Formulierung, die nur der Rekurs auf den Ausgangstext zu erhellen vermag. Beinahe überzeugend klingt hingegen die Erwähnung eines "Geldautomaten" mit Hebeln und Fruchtsymbolen, an dem sich der Protagonist die Zeit vertreibt. Hier dürfte es sich wohl eher um einen "Spielautomaten" handeln.

Doch derlei Kleinigkeiten sollen uns nicht davon abhalten, in das beschauliche Dasein des Helden einzutauchen, der sich eines Tages aus seinem Schneckenhaus wagt, um den Führerschein zu machen. Detailreich werden die Hindernisse geschildert, die sich dem Ich-Erzähler in den Weg stellen, wenn es gilt, zur Anmeldung Passfotos mitzubringen und sich die Sekretärin partout nicht mit Aufnahmen aus der Kindheit zufrieden geben will.

Dass er bereits vor zehn Jahren Fahrstunden genommen und inzwischen fast alles wieder vergessen hat, bedrückt den jungen Mann dabei ebenso wenig wie eine Reihe von Missgeschicken, die ihm im Laufe der kurzen Handlung widerfahren. Die Realität ist eben hochkompliziert und lässt sich nur im Stand-by-Modus bewältigen, denn irgendwann, so das geniale Kalkül des angehenden Fahrschülers, beginnt sie, "Zeichen der Ermüdung zu zeigen".

Der Held der kleinen Dinge bleibt jedenfalls standhaft bei dem Versuch, sich mit minimaler Antriebskraft durch die Mühen der Existenz zu lavieren, und landet unversehens in einer Liebesbeziehung, die sich als weitere Traumsequenz der surreal anmutenden Fabel erweist. Wer angesichts dieses bedeutenden Ereignisses auf eine entscheidende Wende harrt, befindet sich im falschen Roman - es sei denn, man ist bereit, sich auf die Minimalebene des Helden zu begeben. Dort nämlich verdichtet sich der Alltag zu einem unausgesetzten Drama, dem er sich durch die metaphorische Flucht in Kleinsträume entzieht. Dass der Roman schließlich in einer Telefonzelle endet, krönt gewissermaßen den nach innen gewandten élan vital des weltverlorenen Antihelden.

Von der oft beschworenen metaphysischen Obdachlosigkeit existenzieller Prosa ist dieser skurrile Text indes weit entfernt. Er verweist vielmehr auf das Glück des Schwebens, das, um mit Schopenhauer zu sprechen, aus einer Dämpfung des Willens resultiert. Im sicheren Abstand zu den Dingen wächst dem Weltflüchtigen schließlich auch die Erfüllung zu: seine Freundin Pascale, die fehlenden Passfotos und zu guter Letzt ein liegen gelassener Fotoapparat, den er sich hastig aneignet. Der handlungsscheue Protagonist bereut diese Tat freilich bald und sucht sich von den quälenden Gewissensbissen zu befreien, indem er die Beute ins Meer wirft. Danach kehrt Ruhe ein. Sanftheit breitet sich in seinem Gemüt aus und verströmt die vertraute Wärme des Beisichseins.

Man mag ein philosophisches Programm in Toussaints Buch hineinlesen, es als eine Art modernes Handorakel interpretieren. Vielleicht aber birgt es lediglich eine ironische Abrechnung mit dem flexiblen, multifunktionalen homo faber und einer mitunter unerträglichen Gegenwart: ein antimodernistisches Plädoyer also für die Freuden der Beschaulichkeit.


Titelbild

Jean Philippe Toussaint: Der Photoapparat. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Joachim Unseld.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2005.
120 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3627001281

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