Kleinigkeiten? Hochverrat!

Jonathan Spence erzählt einen historischen Wissenschaftskrimi aus dem alten China

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Zha Shiting, ein brillanter Gelehrter und hoher Beamter, als oberster Prüfungsaufseher der Provinz Jiangxi 1726 eine Prüfungsfrage für seine Studenten aussuchte, machte er einen großen Fehler. Er wählte die Textstelle "wo das Volk ruht" aus dem Klassiker "Die große Lehre" ("Da Xue, Erstes Buch, Abschnitt drei"). Die Prüflinge sollten diese Stelle kommentieren und diskutieren. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Aber der chinesische Kaiser Yonghzeng erkannte den eigentlichen Zweck und verhaftete ihn wegen Hochverrats. "Es sei offenkundig, so die Anklage, daß dies keine naive Textauswahl gewesen sei, denn wenn man das erste und das letzte Schriftzeichen der vierteiligen Phrase nebeneinanderstelle, so erhalte man einen Ausdruck, der als Regierungsdevise des amtierenden Kaisers zu identifizieren sei, nur daß bei beiden Zeichen der oberste Strich fehlte. Zha Shiting habe, mit anderen Worten, den Studenten nahegelegt, ihren Kaiser zu enthaupten." Der amtierende Gouverneur Li Wei sollte sich sofort zu Zhas Haus begeben und es nach weiteren Beweisen durchsuchen.

Eine abstruse Geschichte, denken wir. Wie kann man aus einer so unscheinbaren Kleinigkeit gleich auf Hochverrat schließen? Immerhin, Li Wei folgte dem Befehl und durchsuchte nicht nur die Bücherregale und Manuskriptbehälter nach belastenden Schriften, sondern wühlte sich durch die Kommoden, Betten und Möbel, sah sogar in Flaschen nach. Er fand tatsächlich zwei Bände eines, wie der Kaiser in seinem Belobigungsschreiben festhielt, "verräterischen und absurden Tagebuchs". Außerdem winzige Mogelzettel für die Studenten in Kleinstschrift. In seinem Tagebuch schrieb Zha gehässig und sarkastisch über den chinesischen Hof, über die Sinnlosigkeit der konfuzianischen Beamtenausbildung an der Akademie in Peking, über das Kriechertum und die Speichelleckerei in den höheren Beamtenschichten. Für die blumigpompösen Beamtentitel hatte er sogar einige hübsche Verballhornungen erfunden. In aller Schärfe sprach Zha dem herrschenden Kaiserhaus das Urteilsvermögen in juristischen und kulturellen Dingen ab. Natürlich sollte er hingerichtet werden. Da er aber schon in der Haft gestorben war, wurde das Urteil in "Schändung des Leichnams sowie Exil und Versklavung für seine gesamte Familie" umgewandelt. Das war damals üblich: Die Familie hatte immer mit zu leiden und zu büßen.

Das ist nur eine von sehr, sehr vielen Geschichten, die Jonathan Spence in seinem neuen Buch "Verräterische Bücher" erzählt. Sie handeln alle von Verschwörungen gegen das Kaiserhaus, eingebildete und wirkliche, von einem machtbesessenen Workaholic-Kaiser, der alles liest, allem nachgeht, jedes Detail untersucht und sich in alles einmischt: die totale Kontrolle über das Denken, Schreiben, Reden und Handeln - weniger wollte er nicht.

Zwei Hauptstränge verfolgt Spence, die Fälle von Herrn Lü und Herrn Zeng. Lü war ein konfuzianisches Wunderkind, schrieb schon im Kindesalter hochgelehrte Aufsätze. Sein Pech war, dass er zur Ming-Dynastie hielt, auch als sie 1644 von den Mandschus besiegt wurde. Er ist noch eine Weile Beamter, wird dann aber Arzt und Privatgelehrter. Er liest die klassischen Schriften, um Stellen zu finden, die sich gegen die Mandschus verwenden lassen. Herr Zeng, eine Generation später, ist Lehrer und hört immer wieder Gerüchte über die Kaiserfamilie, über Korruption und Naturkatastrophen, die durch die schlechte Regierung hervorgerufen werden (das glaubte man damals - nicht auszudenken, was die Regierung Bush heute auszustehen hätte), und dass der Kaiser seine Nebenbuhler, die eigenen Brüder, beseitigt hat. Herr Zeng hat Lüs Bücher gelesen und meint, man müsse den Kaiser Yonghzeng stürzen (auch das war eigentlich, nach strengem konfuzianischen Glauben, erlaubt). 1728 schickt er einen Boten zu General Yüe, dessen Vorfahr gegen die Barbaren gekämpft hat, und bittet ihn, sich an dem Umsturz zu beteiligen. Natürlich wird der Bote sofort verhaftet und verhört. Und schließlich wird Herr Zeng, der die Gerüchte freigiebig weiter erzählt hat, "behandelt" und schließlich umgedreht, bis er selber glaubt, dass er Unrecht hatte und der Kaiser Recht.

In der Zwischenzeit wird natürlich den Gerüchten nachgegangen. Wo kommen sie her, wer verbreitet sie, wer erfindet sie? Der Kaiser kümmert sich um alles, liest alle Eingaben und Berichte von Beamten, die er penibel mit Kommentaren versieht, sie zurückschickt, detaillierte Anweisungen gibt, Beamte austauscht, verschickt, bestraft, lobt und befördert. Natürlich werden alle Anstifter bestraft, Tote werden geschändet, Skelette zerteilt, Familien versklavt, Besitz wird eingezogen, alle werden hingerichtet oder verbannt. Alle Schriften, die von den Gerüchten künden, alle kritischen Stimmen werden vernichtet, alle Bücher, alle Manuskripte, nichts darf übrig bleiben, die Existenz von Herrn Lü muss ausgelöscht werden, er muss spurlos verschwinden, als wenn es ihn nie gegeben hätte. Aber der Kaiser macht einen entscheidenden Fehler: Er schreibt eine Verteidigungsschrift gegen seine Kritiker. Und er listet dabei penibel alle Gerüchte auf, die es über ihn gibt. Und das Volk, das diese Schrift regelmäßig vorgelesen bekommt? Das merkt sich vor allem die Gerüchte, und nicht so sehr die Verteidigung, die "Beweise" dagegen.

Interessiert uns das chinesische 18. Jahrhundert? Eigentlich nicht. Aber wenn der renommierte Sinologie Jonathan Spence es beschreibt, doch. Sein Buch ist spannend wie ein Krimi, und man lernt ganz nebenbei über die alte Kultur fast alles, mit all den vielen seltsamen Einzelheiten, von denen man nie zuvor gehört hat. Wie viel Zeilenabstand ein Bericht an den Kaiser haben musste, damit der seine Kommentare einfügen konnte, welche Farbe er zum Schreiben nahm, was er alles las, wie die Befehlskette von oben nach unten funktionierte. Dass Träume wichtig werden können für die Untersuchung, und dass man aus Gedichten und eigenbrötlerischem Verhalten auf Umsturzgedanken schließen kann. Die Organisation von Kurieren und das System von Bürokraten und Gelehrten erfährt man ebenso wie die Zustände im chinesischen Reich unter den Mandschu, die Befestigung an den Grenzen, das herrschende Misstrauen, die Todesangst von Yongzheng, der niemandem traute - alles wird erwähnt, erklärt, gedeutet.

Man kennt solche Verwicklungen vor allem aus den Schwertkampffilmen, "House of Flying Daggers" ist ein jüngeres Beispiel. Aber in Buchform hat sich kaum jemand getraut, vom fernen China zu erzählen. Vor allem hat man solche Detailfreudigkeit, verbunden mit einer immer vorwärtstreibenden Lust am Erzählen und einer wissenschaftlichen Grundierung, die noch jedes einzelne Papier von damals in den Händen gehabt zu haben scheint, noch nicht erlebt. Dabei bleibt Spence immer sachlich, er schreibt keinen historischen Roman, keine dicke Schmonzette mit Liebe und Leid. Sein Buch ist eine fantastische Mischung aus wissenschaftlicher Untersuchung und Thriller. Es ist gleichzeitig eine Meditation über ein anderes und über unser Gesellschaftssystem, zwei so unterschiedliche Lebens- und Denkweisen, dass man sich beim Lesen auch immer wieder seine Gedanken über das eigene Leben macht. Ist das alles so selbstverständlich? Nicht mehr nach der Lektüre von Spence' Buch. Noch ein Aspekt drängt sich auf: Das Buch ist auch ein Essay über die Macht des geschriebenen Wortes. Warum sonst versucht der Kaiser, noch das letzte Kochrezept, das einer seiner Gegner geschrieben hat, zu vernichten? Und warum schreibt er diese fatale Denkschrift zu seiner Verteidigung, die alle zwei Wochen öffentlich vorgelesen werden muss? Warum bedient er sich eines selbstorganisierten Massenmediums, das sich dann doch gegen ihn kehrt? Sein Nachfolger hatte es dann schwer, die hunderttausende Exemplare der Schrift wieder einzuziehen und zu vernichten. Noch viel weniger gelang es ihm, die Gerüchte wieder zu zerstreuen.

Aufgehängt an einem langwierigen Fall von Hochverrat malt Spence in "Verräterische Bücher" ein menschenwuseliges, dramatisches und anregendes Bild einer Hochkultur, die noch den winzigsten Spuren Bedeutungen abgewinnen konnte. Man ist unmittelbar und sofort gefesselt, so spannend ist es mit all seinen bisher unbekannten, manchmal abstrusen Verzweigungen und für uns unmöglich erinnerlichen Namen: Das Buch ist auf seine Art packender als Ecos Mittelalter.


Titelbild

Jonathan D. Spence: Verräterische Bücher. Eine Verschwörung im alten China.
Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Hornfeck.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
335 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446205896

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch