Vom Verschwinden der Täter

Hannes Heer erläutert in "Hitler war's", wie sich die Deutschen von Schuld und Verantwortung freisprachen - und in Leon Goldensohns "Nürnberger Interviews" kann man nachlesen, wie die typischen Muster eingeübt wurden

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Situation", schreibt Wolfgang Benz in seinem Vorwort zum Band "Die Nürnberger Interviews", "war absolut einzigartig." Während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gegen die Hauptverantwortlichen des Naziregimes konnte der amerikanische Arzt und Psychologe Leon Goldensohn, der von Januar 1946 bis Juli 1946 als Gefängnispsychiater in Nürnberg tätig war, mit den Angeklagten und einigen Zeugen ausführliche Gespräche führen. Goldensohn suchte in den Gesprächen auch nach einer Antwort auf die bis heute interessierende Frage nach den Motiven für die Mitwirkung an den schrecklichen Verbrechen während des "Dritten Reichs". Seine Gesprächsaufzeichnungen hatte Goldensohn zur Veröffentlichung vorgesehen, doch bis zu seinem Tod 1961 geschah nichts. Erst Mitte der 90er Jahre wurden die Aufzeichnungen wiederentdeckt und von dem amerikanischen Historiker Robert Gellately herausgegeben.

Goldensohn war in den Zellen ein willkommener Besucher. Der Amerikaner trat freundlich aber bestimmt auf, erklärte sein Gesprächsinteresse und verwies auf die Vertraulichkeit der Gespräche. So entstand ein abseits der Prozessroutine von den Angeklagten als angenehm empfundenes Gesprächsklima, in dem sie bemüht waren, ein positives Bild von sich darzustellen und zuweilen auch glaubten, mögliche Verteidigungsstrategien ausprobieren zu können.

Liest man heute die unterschiedlich ausführlichen Gesprächsaufzeichnungen, so erkennt man recht bald bei allen Gesprächspartnern ein Muster, das in den folgenden Jahren zum Standard der Rechtfertigung bei der juristischen Aufarbeitung der Naziverbrechen in der Bundesrepublik werden sollte: Entweder habe man von den Untaten des Regimes nichts gewusst, oder man sei hineingezogen worden aufgrund pflichtgetreuer Befehlsausführung. In beiden Fällen empfinde man eine Strafverfolgung als ungerecht - oder "lächerlich" -, von einer schuldhaften individuellen Verantwortung könne jedenfalls keine Rede sein. Im Rahmen dieses Musters unterscheiden sich die individuellen Argumentationen zumeist nur nach Rang und Status im nationalsozialistischen Herrschaftssystem bzw. individueller intellektueller Reflexionsfähigkeit - soweit die Angeklagten sich überhaupt auf eine Reflexion über ihre Verantwortung einlassen.

"Ich wollte etwas für mein Land tun", erklärt der langjährige Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht (Freispruch) den Grund für seine Kooperation mit den Nazis. Auf die Frage, ob man denn nicht den verbrecherischen Charakter des Regimes schon frühzeitig habe erkennen können, bleiben Antworten aus oder sie verweisen auf den 'verführerischen' Charakter Hitlers. So sieht sich der freigesprochene Hans Fritzsche, ranghoher Mitarbeiter in Goebbels Propagandaministerium, als tragische, von Hitler verführte und schließlich verratene Figur. Oft bemitleiden sich die Angeklagten ob ihres Werdegangs. Geradezu grotesk mutet die Selbstidealisierung des Reichswirtschaftsministers Walther Funk (Urteil: lebenslang, 1957 aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen) an. Eigentlich, so klagt er gegenüber Goldensohn, sei er ja ein Künstler, "aber mich hat ein schreckliches Schicksal ereilt" - und so musste er Minister werden. "Wenn ich bei meiner Schriftstellerei und meiner Musik geblieben wäre, könnte ich jetzt arbeiten und säße nicht als Verbrecher im Gefängnis." In ähnlicher Weise weist auch der letzte Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel (Todesurteil) alle Verantwortung von sich. Ein einfacher Soldat nur sei er gewesen, wäre lieber Landwirt oder Förster geworden, so aber habe er ganz ohne eigenen Einfluss lediglich den Befehlen folgen müssen.

Wie brüchig all die selbstgerechten Rationalisierungen sind, zeigen die Aussagen auf Goldensohns Fragen nach den Einstellungen zur Judenverfolgung. Kaum jemand der Angeklagten bezeichnet sich als Antisemit, aber nahezu alle wiederholen die antisemitischen Klischees der Nazipropaganda vom angeblichen Einfluss der Juden auf das Kultur- und Wirtschaftsleben Deutschlands gegen den doch die Nazis zu Recht etwas hätten unternehmen müssen. Erst durch den übertriebenen Ehrgeiz solcher Leute wie Himmler, Heydrich, Bormann und ihrer Machtkämpfe sei die Sache dann aber aus dem Ruder geraten, erläutert beispielsweise der sich im Gespräch seriös und sachlich gebärdende Chef des Reichssicherheitshauptamts, Ernst Kaltenbrunner (Todesurteil), und meint damit zugleich die Erklärung für seine eigene Unschuld gegeben zu haben. Der Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes "Der Stürmer", Julius Streicher (Todesurteil) - "die Karikatur eines Wüstlings, der sich als kluger Mann ausgeben möchte" - erklärt wichtigtuerisch: "Es ist vollkommen verständlich und richtig, Antisemit zu sein, aber Frauen und Kinder zu vernichten ist so unnormal, es ist kaum zu glauben." Selbstverständlich habe auch er nichts gewusst vom Vernichtungsprogramm, um dann aber doch klarstellen zu wollen: nicht 5 oder 6 Millionen Ermordete - "das ist alles Propaganda" - nein, "ich bin mir sicher, dass es nicht mehr als 4,5 Millionen waren".

Ist in solchen Äußerungen das Unvermögen (oder die Unlust) zu erkennen, die wahre Dimension des Geschehenen anzuerkennen und die eigene Rolle zu reflektieren, so lassen die Ausführungen des in Nürnberg als Zeuge geladenen Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß in andere Abgründe schauen. Bemüht sachlich schildert er dem Gesprächspartner den Ablauf der "Vernichtung". "Ich dachte, ich handle richtig, ich gehorchte Befehlen, und jetzt sehe ich natürlich, dass es unnötig und falsch war [...]. Aber ich weiß nicht, was Sie damit meinen, ob mich das aus dem Gleichgewicht bringt, weil ich persönlich niemanden ermordet habe. Ich war lediglich der Leiter des Vernichtungsprogramms in Auschwitz." Auch der ebenfalls als Zeuge geladene Otto Ohlendorf, der als Einsatzgruppenleiter an der Judenermordung beteiligt war, weist in einem erschütternden Frage-Antwort-Staccato mit Goldensohn alle persönliche Schuld von sich. Er habe keine Gewissensbisse, weil er selbst nicht geschossen habe. Zwar sei er ein wenig "aus dem Gleichgewicht" geraten, aber das "hat meine Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt". Und die Antwort des Chefs des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS, Oswald Pohl, auf die Frage: "Billigen Sie als Mensch das Vernichtungsprogramm?", dokumentiert Goldensohn: "Ohne große Gefühlsregung, aber mit selbstgerechter Miene erwiderte er: 'Ich habe es immer Ekel erregend gefunden - als Mensch.'"

Man könnte die von den NS-Vertretern vorgebrachten Rechtfertigungsstrategien als ebenso leicht durchschaubare wie banal-jämmerliche Bankrotterklärung von Menschen ansehen, die ihrer Schuld auszuweichen suchen, würde man nicht wissen, dass dergleichen Verdrängungsmuster bis heute wirken. Lediglich der Zweck ist ein veränderter. Wollten sich damals die Schuldigen ihrer unmittelbaren Verantwortung - und damit einer möglichen Verurteilung - entziehen, so dienen die Muster heute zur Befreiung von einer als lästig empfundenen Vergangenheit, die dem Wunsch nach einem neuen nationalen Selbstbewusstsein im Wege zu stehen scheint. Wie diese Neuorientierung im Umgang mit der Vergangenheit in Wissenschaft und Publizistik wirkt, zeigt Hannes Heer in seiner Studie "Hitler war's". Das Prinzip hatte bereits Goldensohn in seinen Gesprächen mit dem Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop (Todesurteil) benannt: "ich habe immer mehr den Verdacht, dass Ribbentrop mit Berechnung vorgeht: Er trägt zur Festigung des bereits ziemlich etablierten Mythos von Hitlers Magnetismus bei, der Ein-Mann-Herrschaft, der selbst auferlegten Isolation dieses Mannes [...] und betont zugleich, wie unmöglich es für alle seine Mitarbeiter war, ihn je wirklich kennen zu lernen."

Und eben so 'funktioniert' beispielsweise auch der erfolgreiche Film "Der Untergang" über die letzten Tage Hitlers und seiner Gefolgschaft in der Reichskanzlei. Unter bewusster Vernachlässigung historischer Fakten und Zusammenhänge, so zeigt Heer, wird Hitler als ein "hypnotischer Überwältiger" inszeniert, in dessen "schwarzmagischen Bann" die Täter verschwinden und ihrerseits zu Opfern werden. Doch nicht nur hier verschwinden die Täter. Prototyp des verschwindenden Täters war Albert Speer: Eindrucksvoll ist es bei Heer zu lesen, wie vor allem der Hitler-Biograf und Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Joachim Fest, gemeinsam mit Speer die 'Umdeutung' seiner Rolle plante und umsetzte. Gegenläufige historische Erkenntnisse, das zeigte schließlich auch der "Historikerstreit", wurden einfach ignoriert oder in Zweifel gezogen. Mit besonderem Engagement argumentiert Heer gegen das Verschwinden der Wehrmachtstäter. Heer, der die erste "Wehrmachtsausstellung" leitete, nach ihrer Neukonzeption 1999 aber aus der Leitung ausschied, deckt anschaulich die zuweilen zynisch anmutenden Argumentationsstrategien auf, mit denen eine Beteiligung der Wehrmacht an den Verbrechen der Nazis vor allem der Ermordung von Juden entweder klein geredet oder geradezu geleugnet werden.


Titelbild

Leon Goldensohn: Die Nürnberger Interviews. Gespräche mit Angeklagten und Zeugen.
Patmos Verlag, Düsseldorf 2005.
458 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3538072175

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Titelbild

Hannes Heer: Hitler war´s. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit.
Aufbau Verlag, Berlin 2005.
439 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3351026013

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