Eine Geschichte über die Suche nach der Vergangenheit

Colin Thubrons Roman "Sterntage"

Von Annika RauschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annika Rausch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"An was man sich nicht erinnert, scheint auch nicht sichtbar zu werden." Das muß Astrophysiker Edward Sanders erkennen, als er feststellt, daß er sein Gedächtnis verloren hat. Zwei Jahre seines Lebens fehlen seiner Erinnerung. Er fühlt sich, als wäre er in ein schwarzes Loch gefallen - zeitlos und nicht sichtbar. Ironisch, daß eben gerade Schwarze Löcher den Hauptteil seiner beruflichen Forschungen ausmachen. Nur mit einem Briefumschlag in seiner Tasche, auf dem er eine Adresse mit seinem Namen entdeckt, in einer ihm fremden Stadt sitzend, wird ihm bewußt, daß er genauso wenig über sich selbst wie über die Menschen um sich herum weiß. "Das Gefühl der Zerbrechlichkeit" macht sich in ihm breit, als er sich auf den Weg zu der Adresse auf dem Umschlag macht, dem Haus, in dem er lebt. Doch auch dort fühlt er sich wie ein Fremder, so wie er sich selbst fremd ist. Als er seine Lebensgefährtin Naomi dort trifft, wird ihm klar, daß dies nicht die Frau sein kann, die er liebt, die Frau, an deren blonde Haare er sich auf einmal schemenhaft erinnern kann. Naomi ist ihm in seiner Unwissenheit so fremd, daß sie ihm mit der Zeit sogar äußerst unsympathisch wird. Erst als er anfängt, sich bruchstückhaft zu erinnern, werden Dinge für ihn wieder "sichtbar" und fügen sich in sein Leben erneut ein.

Colin Thubron, geboren 1939, beschreibt in seinem mittlerweile sechsten Buch minutiös die Probleme und Gefühle, vor allem auch die Ängste, denen man sich stellen muß, wenn man mit einer Amnesie zu kämpfen hat. Und zwar beschreibt er sie so genau, daß es unter Umständen schon ermüdend sein kann, sich durch seitenlange Vermutungen über sein vergangenes Leben bis hin zu den minimalsten Andeutungen durchzulesen, die sich meist erst viele Seiten später in ihrer Bedeutung erschließen. Es ist wirklich beeindruckend, wie ausgezeichnet Mister Thubron sich in einen von Amnesie betroffenen Menschen einfühlen kann. Es ist möglich, sich mit seiner Hilfe total in Edward Sanders hineinzuversetzen. Trotzdem muß ich zugeben, daß ich mich nicht nur für Edward freute, wenn seine auf sich gerichtete Aufmerksamkeit und die endlosen Beschreibungen über astronomische Phänomene (die Parallelen zwischen Astronomie und seinem Leben sind mir durchaus bewußt) durch wiederauftauchende Erinnerungen abgelöst wurden. So werden der Leser und der Betroffene selbst auf fast kriminalistische Weise an die verlorenen zwei Jahre wieder herangeführt.

"Uns bedroht nicht das, was wir vergessen haben, sondern das, woran wir uns erinnern, [...] eine Merkwürdigkeit der Amnesie liegt darin, daß sie einen neuen Anfang zu bieten scheint, während man sich aber nach Geschichte und Erinnerung sehnt." Dies erkennt Edward, als er sich seiner Vergangenheit wieder vollständig bewußt ist. Ein gelungenes Werk, das einlädt, Edward Sanders Vergangenheit auf eine interessante Weise zu beleuchten.

Titelbild

Colin Thubron: Sterntage. Aus dem Englischen von Peter Beyer.
Ullstein Verlag, Berlin 1998.
240 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3548243398

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