Schreckbilder

Zygmunt Bauman versucht sich als Stichwortgeber für Globalisierungsgegner

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bestandsaufnahme lässt sich jeden Tag ergänzen, mit einem Blick in die Zeitung, mit den Nachrichten, aber auch mit der Lektüre der neuesten Produktionen, die Soziologen, Politologen, Historiker und Zeitkritiker auf den Markt werfen: Massaker an ganzen Bevölkerungsteilen werden alltäglich, die Flüchtlingsströme, die über die Kontinente wandern, scheinen von Tag zu Tag anzuschwellen. Kurz: Die Wahrung von Menschenrechten scheint in der Welt des 21. Jahrhunderts niemanden mehr groß zu interessieren, der politische Macht besitzt. Während Staaten in Südostasien enorme Entwicklungssprünge machen, die sie zu ernsthaften Konkurrenten der alten Industrieländer machen, scheinen sich die Gesellschaften in Afrika und Südamerika mehr und mehr aufzulösen. Die Verarmung von ganzen Teilen der Welt schreitet unablässig weiter fort. Die Globalisierung als sozialer, wirtschaftlicher und politischer Vernetzungsprozess produziert offensichtlich Menschenmassen, die keinen Ort haben, zu dem sie noch gehören, die vertrieben werden oder sich auf die Wanderschaft machen, um irgendwo sonst Aufnahme zu finden und eine Möglichkeit, sich ihre Existenz zu sichern. Die lokalen Konflikte, die als auslösende Momente solche Menschenströme in Bewegung setzen, haben dabei anscheinend nur Stellvertreterfunktion. Die Profiteure korrupter Regimes sitzen nicht zuletzt in den politischen und wirtschaftlichen Zentralen der Ersten Welt.

Man mag das für eine angemessene Beschreibung halten oder für ein Horrorszenario, man mag die Ursachen für die neuen und alten Kriege, für Massaker und Vertreibung in einer asozialen Weltordnung, in der ungleichen Machtverteilung zwischen armen und reichen Ländern oder in einer Korruptionsmelange sehen, in der lokale Akteure ebenso profitieren wie internationale Konzernführer - von der Tatsache, dass es diese Gewalt und diese ortlosen Menschenmassen gibt, ist nicht abzusehen. Die Fragen, die in diesem Zusammenhang gestellt werden müssen, gehen nahe liegend den Ursachen dieser Phänomene nach. Sie zielen darauf, wie sie entstehen, wie sie verhindert und wie die Probleme, die sie erzeugen, gelöst werden können. Und dass sie gelöst werden müssen, daran gibt es gleichfalls keinen Zweifel. Denn der Druck auf die Industrieländer wächst, er wächst aus politischen Gründen, da die Verlierer und Verweigerer des Globalisierungsprozesses den Westen an seinen empfindlichsten Stellen attackieren - an seinen symbolischen Institutionen und an den Bewegungsspielräumen seiner Bürger. Er wächst, weil die Öffnung von Märkten und Warenströmen nicht nur die Exporte der Industrieländer ermöglicht, sondern auch den Druck auf die Produktivität der Produktion in den Industrieländern erhöht oder den Transfer von Produktionen erlaubt. Beides aber setzt Arbeitskräfte in den Industrieländern frei, die alimentiert werden müssen. Er wächst auch, weil neben den Staaten als internationalen Akteuren auch große Konzerne agieren, deren Interessen möglicherweise völlig anders gelagert sind und deren Macht und Wirkungsmöglichkeiten die vieler Staaten mittlerweile übertrifft. Der Druck wächst eben auch, weil die Menschenströme, die in den Ländern der Dritten Welt freigesetzt werden, nicht nur ein enormes humanes Problem darstellen, sondern auch, weil diese Menschen verstärkt Einlass in die reichen Staaten der Welt suchen, legal oder illegal.

In diesem Kontext spielen soziologische Studien und Erklärungsversuche eine wichtige Rolle, zumal wenn sie, wie im Fall Zygmunt Baumans eng verbunden sind mit jenem Modernisierungsparadigma, für das in der internationalen Soziologie neben Bauman selbst Namen wie Ulrich Beck oder Anthony Giddens stehen. Bauman ist in diesem Kontext zudem kein geringer Name. In seinen um 1990 publizierten Studien "Dialektik der Ordnung" und "Moderne und Amivalenz" traf der englische Soziologe das Selbstbewusstsein der Moderne an ihrem empfindlichsten Punkt. Er machte sie nämlich mitverantwortlich für die Vernichtung der Juden im NS-Regime. Ohne die Leistungen und ohne die Strukturen der modernen Gesellschaften wäre eine solche organisatorische Aufgabe überhaupt nicht möglich gewesen. Mehr noch, der spezifische Antisemitismus des Nationalsozialismus selbst war ein Phänomen, das so nur in einer modernen Gesellschaft möglich und erfolgreich sein konnte. Seit diesen Studien wird Bauman immer wieder da gehört, wo es um die "Ambivalenz der Moderne" geht, also darum, dass die zunehmende Integration von Gesellschaften einerseits und die Auflösung tradierter Strukturen und Institutionen andererseits, mithin zudem die Dynamisierung der Gesellschaften eben nicht nur eine größere Freiheit der Einzelnen und größeren Wohlstand erzeugt, die Gesellschaften nicht nur leistungsfähiger und offener macht, sondern auch Nachteile und Opfer hat. Nicht zuletzt eben jene Menschenströme, die in der Diktion Baumans nicht nur ausgegrenzt werden, sondern als "Abfall" von der Moderne "produziert" werden.

Nun hat diese Überlegung in der Tat einiges für sich. Die Entwicklung der Industriegesellschaften, wie wir sie kennen, ist gleichfalls nicht konflikt- und gewaltfrei verlaufen. Ganz im Gegenteil, die Zahl der Opfer, die die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Prozesse in Europa in den vergangenen Jahrhunderten erzeugten, ist kaum bezifferbar. Es war und ist kaum anzunehmen, dass diese Prozesse, auf ein globales Maß vergrößert, friedlicher oder humaner ablaufen sollten, auch wenn die Entwicklung der Zivilgesellschaften in den Industrieländern zu erhöhten moralischen Ansprüchen geführt hat und zu Institutionen, die sich deren Wahrung zur Aufgabe gemacht haben. Dafür ist allein das Konfliktpotenzial, das die heutigen Gesellschaften aus ihrer Geschichte geerbt haben, zu groß. Auf der anderen Seite nehmen politische und ökonomische Entscheidungsprozesse, zumal wenn sie administrativ umgesetzt werden, bis heute wenig Rücksicht auf die Einzelnen. Ganz im Gegenteil, sie scheinen dezidierte Ausgrenzungs- und Depravierungsstrategien zu fahren, die Menschengruppen erzeugen, die außerhalb des Rechts stehen, weil für sie keine Verwendung mehr besteht. Erzeugt wird also jene Figur des "homo sacer", die Giorgio Agamben aus dem römischen Recht entlehnt hat, um ihr eine neue Karriere in der soziologischen, philosophischen und rechtstheoretischen Diskussion zu ermöglichen. Nutzlose Menschen, so dann Bauman, sind rechtlose Menschen, unabhängig davon, ob sie in einem afrikanischen Flüchtlingscamp leben oder von Hartz IV in Deutschland betroffen sind. Die Chancen, diesen menschlichen "Abfall" wieder "recyceln" zu können, sind gering. Ziel ist es also, sie ohne größeren Aufhebens dem Vergessen und schließlich der Vernichtung preiszugeben.

Das ist zweifelsohne eine bittere und zumindest in ihrer Essenz auch nachvollziehbare These. Freilich lässt Baumans Argumentation eine einigermaßen stringente Linie ebenso missen wie eine tragfähige historische Basis. Ohne Zweifel hat die Modernisierung mit dem Beginn der Globalisierung eine neue Qualität erhalten, freilich reicht deren Entstehung weit zurück, wie auch deren Schattenseiten schon früh zu spüren waren, auf beiden Seiten: Die Vernichtung der einheimischen Bevölkerung in Nord- und Südamerika seit dem 16. Jahrhundert ist ohne Zweifel eine frühe Folge der Globalisierung, die eng mit der Entstehung von Kapitalismus und Industrie zusammenhängt. Die Globalisierung schlägt zugleich aber auch auf ihre Profiteure zurück, von Anfang an, da eine ihrer Bedingungen die Öffnung der Grenzen ist: Die Pest des 14. Jahrhunderts, die große Teile der europäischen Bevölkerung auslöscht, ist eines der Beispiele dafür. Aus dieser Perspektive ist der Paradigmenwechsel, den Bauman für das 20. Jahrhundert attestiert, wesentlich weniger deutlich, als von ihm apostrophiert. Es gibt kaum einen Zweifel daran, dass die Industriegesellschaften der Gegenwart einen denkwürdigen Dynamisierungsprozess erleben, der viele der mittel- und langfristigen Strukturen, die bis heute Funktion haben, auflösen. Davon betroffen sind Familien ebenso wie staatliche Institutionen und internationale Beziehungen. Den internen Kurswechsel der Industriestaaten jedoch, der in Großbritannien mit Margret Thatcher und in Deutschland mit der Agenda 2010 verbunden wird und der die Sicherung durch die Sozialsysteme zurückfährt, als Ablenkungsmanöver der Staaten zu beschreiben, die gegenüber der Macht internationaler Konzerne und mafiöser Strukturen hilflos sind, geht an den Problemen vorbei. Die Krise der Sozialsysteme ist in erster Linie eine Anpassungskrise an neue, eben globale Wirtschaftsstrukturen. Die Produktion von Flüchtlingsmassen ist ohne Zweifel nicht zuletzt ein Erbe des Kolonialismus, das Produkt fehlender staatlicher Strukturen und korrupter politischer Eliten im Verein mit kaum verhohlenen politischen und wirtschaftlichen Interessen der mächtigen Staaten der Erde. Der Wohlstand der Ersten ist auch erkauft mit der Armut der Dritten Welt, die friedlichen Verhältnisse der einen mit den Konflikten der anderen Gesellschaften. Aber Bauman macht sich nicht daran, diesen auch soziologisch hochkomplexen Zusammenhang zu beschreiben. Stattdessen rettet er sich in die Formulierung zitierfähiger Sätze, denen aber die analytische Basis fehlt, und in die Reihung beliebiger Assoziationen, deren Zusammenhang offen bleibt. Es scheint fast so, als biedere er sich mit diesem enttäuschenden Band bei jenen Globalisierungsgegnern an, denen es weder um eine Analyse oder um ein Verstehen der Konflikte und Probleme im Globalisierungsprozess geht noch um deren Lösung, sondern um den Konflikt mit dem politischen Establishment der Industriestaaten. Gesetzt, es gibt solche Teile. Damit aber ist weder den Arbeitslosen in Deutschland, noch den Einwanderern in Frankreich, weder den Arbeiterinnen in den asiatischen Sweatshops noch den Flüchtlingen in den afrikanischen Camps gedient. Geschweige denn der politischen Diskussion oder gar der soziologischen Analyse. Und das ist bedauerlich.


Titelbild

Zygmunt Bauman: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne.
Übersetzt aus dem Englischen von Werner Roller.
Hamburger Edition, Hamburg 2005.
196 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3936096570

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