Kriminalfälle im "Dritten Reich"

Stürickows Tatsachenberichte aus dem nationalsozialistischen Berlin

Von Stefanie HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts legte der französische Anwalt Francois Gayot de Pitaval mit seinen "Causes célèbres et intéressantes" den Grundstein für eine neue literarische Gattung, die ihre Spannung aus den realen Ermittlungsakten zieht und nicht unwesentlich zur Entwicklung des Kriminalromans beitrug. Erfreuen sich Tatsachenberichte gewöhnlich selten breiter Beliebtheit beim Lesepublikum, so führte der Erfolg Pitavals schnell zu Nachahmern. Das bekannteste derartige Werk in Deutschland mag der "Neue Pitaval. Eine Sammlung der interessantesten Criminalgeschichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit" in 60 Bänden sein, herausgegeben von Julius Eduard Hitzig und Willibald Alexis.

Noch heute gehören Sammlungen wahrer Kriminalgeschichten zum Reisegepäck vieler Städtereisenden. Regina Stürickow hat 1999 bereits das "mörderische Paris" publizistisch bearbeitet, in "Der Kommissar vom Alexanderplatz" setzte sie dem legendären Berliner Kommissar Ernst Gennat ein Denkmal und 2004 erschien "Berlin - Kriminalfälle 1914-1933". Nun liegt gewissermaßen die Fortsetzung der Berliner Kriminalfälle vor und die Autorin steht vor der schwierigen Aufgabe, das bei aller Faktentreue unterhaltsame Genre in der NS-Zeit zu situieren. Stürickow schickt ein Vorwort voraus, in dem sie auf die veränderten Strukturen im Polizeiapparat ab 1933 aufmerksam macht: die Abhängigkeit vom Reichspropagandaministerium, die Informationssperre gegenüber der Presse im Fall von Serientätern (weil es solche offiziell nicht gab), den Personalmangel (Polizisten wurden zur Unterstützung der Sicherheitspolizei in besetzte Gebiete versetzt) und die daraus resultierenden schleppenden Ermittlungen.

Abgesehen von der Häufung von Raubmorden, die auf die allgemeine materielle Not verweisen, und die zahlreichen Sexualdelikte, für die Stürickow keine Erklärung liefert, sind die von der Autorin ausgewählten Verbrechen selten durch die spezifischen Zeitumstände motiviert.

Meist handelt es sich um Konfliktsituationen, in die Menschen auch gegenwärtig geraten können: Eine überforderte junge Frau lässt ihre Kinder in der Wohnung verhungern, um sich mit ihrem Liebhaber eine bessere Zukunft ausmalen zu können, ein Schüler wird von einem anderen gequält und dabei getötet. Nationalsozialistisches Gedankengut findet sich dagegen in den Begründungen der Taten, wenn die "Rabenmutter" mit dem herrschenden Mutterschaftskult konfrontiert oder der Schülermord - gemäß der Propaganda gegen Schmutz- und Schundliteratur - auf die "englischen Kriminalreißer" zurückgeführt wird. In ihrer Vereinfachung ähneln diese Erklärungsmuster heutigen Argumentationen.

Ganz nebenbei erfährt man in den Fallschilderungen einiges über den nationalsozialistischen Alltag, über den herrschenden Hunger, die knappen Lebensmittelkarten, die Zuflucht in den Luftschutzkellern, Verdunkelungsgebot und die Schwierigkeit, in einer zunehmend zerstörten Stadt Ermittlungen zu führen. Und immer wieder rücken bei den Ermittlungen Hinweise in den Mittelpunkt, die mit dem eigentlichen Fall nichts zu tun haben, aber auf nationalsozialistische Gesinnung zurückzuführen sind. So gerät bei einem Prostituiertenmord die Jüdin Irene Grabowski ins Visier der Ermittler, weil man ihr vorwirft, sie habe den Freier nicht über ihre Identität aufgeklärt und sei damit an der begangenen Rassenschande schuld. Ein ehemaliger Kommunist, der regelmäßig über die Nazis schimpft, wird von Nachbarn verdächtigt, als ein kleines Mädchen vergewaltigt und ermordet wird. Ein Bankräuber wird intensiv über seine angeblichen Verbindungen zu 'Zigeunern' befragt.

Interessant ist der Fall eines Jungen, der in Panik einen Mann erschießt. Der Junge gehört einer der illegalen Jugendverbindungen an, die im zerstörten Berlin zunehmend Zulauf haben und gegen die Hitlerjugend opponieren. Umso erstaunlicher, dass der ermittelnde Kriminal-Obersekretär für den jugendlichen Täter "nur" eine Haftstrafe empfiehlt und davon ausgeht, dass er "für die Volksgemeinschaft noch ein durchaus brauchbares Mitglied zu werden verspricht". Bei aller NS-Staatstreue des Polizeiapparats zeigt sich hier ein Unterschied zur Gestapo.

Aufschlussreich ist auch die publizistische Aufarbeitung des letzten Falls im Buch: Ein Mann bestiehlt eine jüdische Zwangsarbeiterin, schläft mit ihr und ermordet dann sie und ihre Tochter. Die zerstückelten Leichen werden an unterschiedlichen Orten entdeckt und geben der Polizei zunächst Rätsel auf; der Fall wird in den Zeitungen verhandelt. Nachdem der Täter gefasst ist, entrüstet sich die Presse über das grauenhafte Verbrechen, erwähnt aber mit keinem Wort, dass es sich bei den Opfern um Jüdinnen handelt. "Die Wahrheit hätte die abstruse nationalsozialistische 'Rassentheorie' ad absurdum geführt", meint Stürickow, denn die Polizei hatte anhand der Leichenfunde natürlich nicht feststellen können, dass es sich nicht um Arierinnen handelte. Der Täter wird hingerichtet. Ob der Vorwurf des Mordes oder der Rassenschande bei der Verurteilung schwerer wog, wird nicht berichtet.

Stürickow trifft den bekannten Tonfall der früheren Pitavals, indem sie in den ersten Fällen nur sehr am Rande das Zeitgeschehen beschreibt. Ganz allmählich verdichten sich in den Kriminalgeschichten die Hinweise auf den Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen auf die Polizeiarbeit. So ergibt sich am Ende doch noch ein ungewohnter Blick auf das "Dritte Reich", ohne dass dies der Spannung Abbruch tut oder geschmacklos wirkt. Damit ragt dieses Buch aus der Fülle ähnlicher Sammlungen von Kriminalfällen deutlich heraus.


Titelbild

Regina Stürickow: Kriminalfälle im Dritten Reich. Mörderische Metropole Berlin.
Militzke Verlag, Leipzig 2005.
207 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3861897415

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