Tragödien einer Zeitenwende

Heinrich Heines 1492

Von Anne Maximiliane JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Maximiliane Jäger

Dass Geschichte nicht ohne Geschichten, Historie nicht ohne "Historien" zu haben sei, ist nicht erst seit Hayden Whites Feststellung, dass "Auch Clio dichtet" (1986), geläufig. Sprechen wir von "Geschichte", so bewegen wir uns stets auf zwei Ebenen, meinen zugleich einen Komplex realer Geschehnisse wie deren Bericht, einen tatsächlichen oder aber einen durch den Bericht erst konstituierten Zusammenhang dieser Geschehnisse in einem sich in zeitlicher Sukzession entfaltenden Prozess. Keine Geschichtsdarstellung kommt ohne interpretierende Paradigmen aus, Kriterien der Auswahl, Klassifikation und Strukturierung, nach denen Erscheinungen geordnet, Zusammenhänge erschlossen, Prozesse ausgemacht und nachgezeichnet werden.

Geläufig sind Darstellungen nach inneren Gesamtprinzipien, etwa des Kreislaufs, der auf- oder absteigenden Linien, strukturiert um Höhe- oder Wendepunkte, verlaufend nach finalistischer Notwendigkeit oder im Sinne providentialistischer Typologie. Nicht selten realisieren sich in solchen Geschichtsbildern Legitimations- und Herrschaftsdiskurse, die wiederum kritische Kontrafakturen provozieren können. Die Dichtung hat nicht geringen Anteil an der Ausformulierung, Verbreitung und Popularisierung solcher Geschichtsinterpretationen.

Im 19. Jahrhundert erlangt die Geschichte nicht nur als Objekt der neu entstehenden historischen Wissenschaften, sondern auch als zentraler Gegenstand der Philosophie ein zuvor nicht gekanntes Interesse und entfaltet als solcher schließlich ein nicht unbeträchtliches revolutionäres Potential. Dem entsprechend erhalten gerade auch in dieser Zeit historische Stoffe und Themen als Medien politischer Propaganda und Kritik eine enorme Bedeutung. Auch für das Werk Heinrich Heines spielt das eine zentrale Rolle, des Zeitkritikers und Dichters, der, als Schüler der Schlegel und Hegels, als Freund und Anreger von Karl Marx, stets ein großes Augenmerk auf die historische Tiefendimension aktueller Entwicklungen wahrte, der auch in seiner Dichtung von der ersten historischen Tragödie, "Almansor" (1820/21), an bis hin zu den späten "Historien" des "Romanzero" (1852) so manchen herrschenden Geschichtsdiskurs gegen den Strich gelesen und die Konsequenzen seiner politischen und kulturellen Verdrängungsmechanismen exponiert hat.

In meinem folgenden Essay möchte ich das am Beispiel zweier Werke Heinrich Heines zeigen, der eben genannten frühen "Almansor"-Tragödie und des späten Versepos "Vitzli putzli" (1852), die sich, mit rund dreißig Jahren Abstand entstanden, beide mit den historischen Ereignissen des Jahres 1492 befassen, einem Jahr, das in der Geschichtsschreibung und historischen Dichtung in Heines Vor- und Umfeld mehrfach als ein historischer Wendepunkt begriffen und dementsprechend aktualisierend ausgedeutet worden ist. Es wird sich zeigen, dass bereits der junge Heine nicht bei einer einfachen Umkehrung der von ihm kritisierten politisch-propagandistischen Codierung des historischen Stoffes stehen bleibt, sondern dass er sich schon hier in die Richtung einer Auffassung von mehrschichtig und umwegig verlaufender historischer Progression bewegt, die nicht in einer reinen Geschichtsdialektik aufgehen, ihm auch in den Zeiten seiner revolutionären Hoffnungen einen skeptischen Unterton erhalten und sich später, im Kontext des grundsätzlichen Pessimismus seiner Pariser "Matratzengruft", um Ansätze einer neuen geschichtsdiagnostischen, nämlich einer kulturpsychologischen Dimension erweitern wird.

Zwei Ereignisse vor allem haben das Jahr 1492 immer wieder als historischen Wendepunkt erscheinen lassen, beide hängen mit der spanischen Geschichte zusammen. Erstens ist das, heute nicht mehr so präsent, die Eroberung Granadas, des letzten muslimischen Königreichs auf der Iberischen Halbinsel, durch die Katholischen Könige Fernando und Isabel von Kastilien und Aragon im Januar 1492. Zweitens ist es die Landung des im Auftrag der spanischen Krone reisenden Cristóbal Colón auf der Karibikinsel Guanahaní am 12. Oktober 1492. Das erste Ereignis, die Eroberung ganz Spaniens durch die Katholischen Könige, beendet eine rund 700jährige Zeit von Religions- und Territorialkämpfen im Südwesten Europas. Mit der endlichen Einigung des Landes unter einer Krone und einer (der römisch-katholischen) Religion gründen die Katholischen Könige einen modernen, zentralistisch organisierten Staat, in dem das Prinzip des cujus regio ejus religio absolute Verbindlichkeit erhält (und mit repressiven Mitteln durchgesetzt wird, beispielsweise von staatlich institutionalisierten kirchlichen Inquisition) - ein Modell von absolutem Staat also, das in seiner Radikalität eigentlich erst wieder von den totalitären Staaten der neueren Zeit erreicht wird. Im Geschichtsbewusstsein von Muslimen und Juden bedeutet das Ende der Reconquista bis heute einen schwerwiegenden historischen Bruch: Für die Muslime markiert es den Verlust der einmaligen maurischen Kultur auf spanischem Boden, für die Juden das Ende einer über weite Strecken möglichen Konvivenz mit den bei den anderen Religionen und der Möglichkeit einer weitgehenden sozialen und religiösen Emanzipation.

Die Tatsache, dass - dies ist der zweite Aspekt, der das Jahr 1492 historisch als so bedeutsam erscheinen lässt -, Christoph Kolumbus seine epochale Fahrt über den Atlantischen Ozean im Auftrag dieser "neuen" spanischen Krone beginnt, erscheint auf historisch-soziologischer Ebene betrachtet plausibel. Nach der erfolgreichen Beendigung der Reconquista hat die spanische Krone Geld und Energie frei für ein solches Experiment der weiteren Expansion. Und unter diesem Vorzeichen, dem Versprechen eines konkurrenzlosen Seeweges nach Indien und der, beispielsweise in seinem "Diario de a bordo" - unablässig in Aussicht gestellten großen Mengen von Gold, trägt Cristóbal Colón den imperialistischen Gedanken in die Neue Welt. Während die rigide Religionspolitik der Katholischen Könige in Spanien einen Massenexodus produziert, ist Kolumbus' Landung in Guanahaní der Auftakt des immer noch größten Völkermordes des Geschichte.

Dieser letztgenannte Faktor ist allerdings im späteren (und ich meine, immer noch auch unserem) Geschichtsbild insgesamt weit weniger präsent als die immense Bedeutung, die Kolumbus' Landung in Amerika für die Kultur-, Philosophie- und Mentalitätsgeschichte gehabt hat. Mit Kolumbus' Landung in Amerika schließt sich das Weltbild ein für alle Mal, wird die Welt rund. "Seit 1492 sind wir", wie es Bartolomé de Las Casas ausdrückt, "in dieser so neuen und keiner anderen vergleichbaren Zeit". "Seit diesem Datum", so Tzvetan Todorov, "ist die Welt geschlossen (obwohl das Universum unendlich wird)", "die Welt ist klein", wie schon Kolumbus selbst geschrieben hat.

Bemerkenswert ist dabei, dass dieser Aspekt in Kolumbus' Umkreis und Nachfolge zunächst so gut wie keine Rolle spielt. In den Verherrlichungs- und Legitimationsstücken der Bühne des spanischen Siglo de Oro steht vor allem die Gründungsstunde des spanischen Reiches im Zentrum, der Sieg der Katholischen Könige über Granada, und wird in dieser Funktion natürlich zum christologisch und providentialistisch unterfütterten Gründungsmythos verklärt. Kolumbus' Landung in Amerika fungiert hier, wenn sie überhaupt erwähnt wird, nur als Verlängerung der christlichen Mission und Herrschaftsausbreitung in die Neue Welt - etwa in Lope de Vegas Kolumbus-Drama "EI Nuevo Mundo descubierto por Cristobal Colón", wo Kolumbus als zweiter Moses das auserwählte spanische Volk in ein neues gelobtes Land führt. Diese Form der christologischen und providentialistischen Vereinnahmung des epochalen Ereignisses der Entdeckung Amerikas prägt auch schon Kolumbus' eigenes Denken, das insgesamt von einer später immer wieder fasziniert zur Kenntnis genommenen, Mischung aus moderner Entdeckerlust und mittelalterlich-religiösen Denkmustern geprägt ist. Neben der Vorstellung, das Gold "Indiens" (an das Kolumbus nie zu glauben aufhört) für einen neuen Kreuzzug nach Jerusalem verwenden zu wollen (ein durchweg mittelalterlichen Vorstellungen geschuldetes Unternehmen also), erklärt Kolumbus auch seinen eigenen Namen in einem christlich providentialistischen Rahmen. Las Casas überliefert: "Deshalb trug er also den Namen Cristóbal, das heißt Christum ferens, was so viel bedeutet wie Träger oder Bringer Christi [...]. Sein Nachname war Colón, was Neubesiedler heißt [...]." Nur kurz erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass gerade dieser Zwang, das "Neue" und Unbekannte von vornherein praktisch nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern vielmehr die davon ausgehende Verunsicherung durch die Rückbindung in vorgefasste Denk- und Erklärungsmuster immer wieder zu neutralisieren (ein Charakteristikum vielleicht der mittelalterlichen Hermeneutik insgesamt), später zum Beispiel von Jakob Wassermann ("Christoph Columbus", 1929), von Alejo Carpentier ("El harpa y la sombra", 1979) und von Tzvetan Todorov ("La conquête de l´Amérique", 1982) in direkten Zusammenhang mit dem katastrophalen Verlauf gebracht wird, den die Entdeckung und Eroberung Amerikas von Anfang an genommen haben. Außerhalb Spaniens wird das Problem der hermeneutischen Voreingenommenheit der "Entdeckungen" freilich schon in der Aufklärung, etwa von Forster und Diderot, reflektiert.

Welche Sicht auf die historischen Ereignisse ist nun die Vorgabe, auf die Heine mit seiner Bearbeitung des Themenkomplexes reagiert? Bekannt ist, dass Spanien insbesondere in den protestantischen Ländern seit dem 30-jährigen Krieg und bis weit ins 18. Jahrhundert hinein sowohl wegen seiner rigiden Religionspolitik als auch wegen seiner blutigen Eroberungen in Lateinamerika als Inbegriff von Barbarei und geistiger wie wirtschaftlicher Rückständigkeit galt. Erst seit Lessings und Herders "Wiederentdeckung" gerade der älteren spanischen Kultur rückt auch der Sieg der Christen über die Mauren im Jahr 1492 wieder als historisch bedeutender Einschnitt ins Bewusstsein. Während die deutschen Romantiker zunächst emphatisch die "orientalisch -europäische" maurische Dichtung rezipieren, wird im Zusammenhang der Napoleonischen und der Befreiungskriege der Sieg der Christen über die Mauren, über die "Fremden und Feinde des Glaubens", national romantisch und politisch-propagandistisch aufgeladen. Der erfolgreiche Aufstand der Spanier gegen die napoleonischen Truppen im Jahre 1808 erscheint nun wie eine Wiederbelebung des "alten Heldengeistes" (Henrik Steffens) aus dem christlichen Rittertum, der christliche Sieg über Granada und der darauf auf katholischer Grundlage errichtete Einheitsstaat werden zu Vorbildern eines auf christlichem Fundament errichteten deutschen Nationalstaates und ebensolchen Europas der Heiligen Allianz. Amerika, zumal das revolutionäre Lateinamerika Simon Bolívars in dieser Zeit, findet unter diesem europäisch geschlossenen und insgesamt gegenrevolutionären Vorzeichen kein Interesse.

In dieser Situation setzt nun Heines Beschäftigung mit dem Thema "1492" ein. Seine Vorgabe ist die in einem Boom von Reconquista-Werken literarisch zutage tretende, propagandistisch aktualisierende Deutung des christlichen Sieges über die Mauren, auf die er mit seiner frühen Tragödie "Almansor" von 1820/21 antwortet.

Heine beginnt die Arbeit an seiner Tragödie unter einem doppelten Vorzeichen. Zum einen mit der poetologisch programmatischen Intention, mittels des "romantisch" geprägten spanischen Stoffes das Konzept einer romantischen Tragödie zu verwirklichen, welches ihm von seinem Lehrer August Wilhelm Schlegel nahe gebracht worden war - ein "romantischer" Stoff also in einer "klassischen" Form, wie man aus der Einleitungsstanze erfährt, die Heine der Druckfassung voranstellt. Zum anderen zeigt die gesamte Anlage der Tragödie Heines Bestreben, eine polemische Gegenposition zur nationalromantisch-propagandistischen Codierung des Stoffes in seinem Umkreis zu formulieren, ein Vorhaben, das nicht zuletzt mit der Erfahrung zusammenhängen dürfte, dass die ausdrücklich christliche Fundierung des nachnapoleonischen Deutschland und Europa zur ideologischen Rechtfertigung einer ausgesprochen reaktionären Judenpolitik und zunehmender antisemitischer Ausschreitungen diente. Der deutsch-jüdische Schriftsteller Heinrich Heine, der restriktive Maßnahmen und Animositäten gegenüber Juden während seines Jurastudiums selbst zu spüren bekam, ergreift innerhalb dieses Musters Partei für die Seite der Unterlegenen und Diskriminierten.

Diese offenkundig polemische Seite des "Almansor"-Dramas realisiert sich zum einen in der Charakterisierung der dramatischen Personen, die sich aus den gegeneinander kämpfenden Parteien von Mauren und Christen zusammensetzen, zum anderen in der Wahl des Zeitpunktes der Dramenhandlung, nämlich der Zeit nach der Eroberung von Granada. Am deutlichsten ist eindeutig positiv gegen negativ stellende Darstellung der gegnerischen Parteien. Während nämlich in Heines literarischem Umkreis die Mauren gegenüber den Christen generell abgewertet werden, ihr Unterliegen als historisch und ideologisch "richtig" erscheint, dreht Heine diese Bewertung vollständig um. Seine "bösen" Figuren sind die Christen - eine christliche Ritterschaft, die sich durch Betrug, Heuchelei und Häme auszeichnet, eine habgierige, versoffene Priesterschaft, ein Abt, dessen Christentum sich im genüsslichen Konsum inquisitorischer Auto-da-fes realisiert. Dagegen, durchgehend positiv, die Mauren: der maurische Konvertit Aly, ein "besserer Christ" als alle Altchristen, der glaubenstreue Haudegen Hassan, der in den Alpujarras verzweifelt gegen die christliche Besatzung kämpft, schließlich die Protagonisten der zentralen Liebesgeschichte und -tragödie, der empfindsame Moslem Almansor und seine (jetzt getaufte) Geliebte Zuleima alias Clara. Diese recht plakative Sympathieverteilung auf der Figurenebene untermauert Heine mit dem Handlungszeitpunkt seines Stücks. Ebenfalls anders als in den apologetischen Bearbeitungen des Reconquista-Themas im Umkreis, verlegt Heine seine Handlung in die Zeit nach dem Fall Granadas. Gerade dadurch wird dieser, der Januar 1492, zum grundlegenden tragischen Moment des Stückes. Und zwar auf folgende Weise.

Die Tragödienhandlung hat eine Vorgeschichte, die natürlich vor 1492 liegt. Dort gibt es zwei maurische Familien, die nicht nur eng befreundet sind, sondern die sogar ihre Kinder, Almansor und Zuleima, welche miteinander aufwachsen und füreinander bestimmt sind, gegeneinander austauschen, um die Freundschaftsbande noch enger und schon jetzt quasi familiär zu verknüpfen. Eine durch Vertrauen, Freundschaft und Liebe ausgezeichnete Situation, die gleichsam "ganzheitlich" erscheint zumal dann, wenn sie aus dem Unglück der Gegenwart wehmütig erinnert wird. Hier hinein bricht die Eroberung von Granada, die das patriarchische Familienidyll bis ins Fundament zerstört. Die beiden maurischen Familienväter reagieren völlig unterschiedlich auf das von den Katholischen Königen gestellte Ultimatum, zum Christentum zu konvertieren oder aber ins Exil zu gehen. Aly lässt sich und seine Pflegetochter Zuleima taufen. Der Freund Abdullah jedoch schwört ihm daraufhin Todfeindschaft und geht mit seinem Pflegesohn Almansor ins nordafrikanische Exil. Die ehemals glückliche Welt ist zerbrochen, Freundschaft und Liebe sind der Täuschung, dem Hass und der Trennung gewichen.

In dieser Situation setzt die Dramenhandlung ein. Almansor kommt, verkleidet und unter falschem Namen, in die ihm fremd gewordene Heimat zurück, um seine Jugendgeliebte Zuleima noch einmal zu sehen. Von dem Moment an, wenn er bei untergehender Sonne das verfallene Haus seiner (Pflege- )Eltern wieder betritt, bis zum exakt vierundzwanzig Stunden später liegenden Dramenende, wenn die untergehende Sonne den tragischen Tod der beiden Liebenden beleuchtet, dreht sich die gesamte Handlung darum, die Vergangenheit, die maurische Zeit vor 1492, doch noch einmal ins "Leben", in die Realität zurückzurufen. Doch dem steht die Geschichte unwiderruflich entgegen. Darin besteht die tragische Grundsituation des Stücks, welche sich dann sowohl auf der historisch-politischen als auch auf der subjektiven Ebene der Figuren entfaltet.

Im Zentrum der Handlung steht natürlich das tragische Liebespaar, Almansor und Zuleima. Ihre durch die historisch -politischen Umstände herbeigeführte Trennung motiviert Heine aber nicht nur auf der soziohistorischen Ebene, sondern mit dem Glaubenskonflikt. Es ist die religiöse Schranke, welche die Trennung der Liebenden unüberwindbar macht. Und so kommt es von der Exposition der Tragödie an bis hin zur tragischen Klimax einerseits zu einer fortschreitenden physischen Annäherung der beiden Liebenden, begleitet von der immer realer scheinenden Illusion, die verlorene Vergangenheit doch noch einmal zum Leben erwecken zu können. Gegenläufig dazu tritt, andererseits, die sich in den Religionsauffassungen manifestierende innere Trennung immer krasser hervor. Das gipfelt in der Klimax: Almansor und Zuleima treffen sich im blühenden und von der Morgen sonne beleuchteten Garten vor Alys Schloss, einem klassischen locus amoenus, wie geschaffen zur Liebesvereinigung. Hier scheint alles "gut" werden zu sollen. Doch mitten in diesem Idyll ragt alarmierend ein Kruzifix, eine szenische Variation der gesamten historischen und personellen Konstellation, in der die Eroberung Granadas und damit der Eintritt des Christentums das Glück der Familien gespalten hat.

Anlässlich dieses christlichen Symbols nun entspinnt sich zwischen den Liebenden eine Art von Religionsgespräch, in dem Heine die tragische Liebeshandlung innig mit dem politisch-religiösen Konflikt verschränkt. Wenn sich hier, im Herzen des Stücks, die beiden Liebenden über das Thema "Liebe" unterhalten, dann ironischerweise nicht über ihre Liebe zueinander, sondern über die Liebesbegriffe ihrer jeweiligen Religionen. Zuleima vertritt die entsagende Erlösungsliebe des Christentums, Almansor dagegen (hier hört man natürlich schon den späteren "Sensualisten" Heinrich Heine heraus) deutet sie sensualistisch-panerotisch um. Auf Zuleimas symbolreiche Erläuterung über das "Haus der Liebe", die christliche Kirche, hin gerät Almansor in ein sinnlich-panerotisches Entzücken:

Du sprachest aus das große Wörtlein 'Liebe!' [...]
Du sprachst es aus, und Wolken wölben sich,
Dort oben hoch, wie eines Domes Kuppel,
Die Ulmen rauschen auf, wie Orgeltöne,
Die Vöglein zwitschern fromme Andachtlieder,
Der Boden dampft von wallend süßem Weihrauch,
Der Blumenrasen hebt sich als Altar,
Nur eine Kirch' der Liebe ist die Erde.

Völlig entgegengesetzt dazu jedoch Zuleima:

Die Erde ist ein großes Golgatha,
Wo zwar die Liebe siegt, doch auch verblutet.

Der Bruch, die tragische Peripetie, findet in dieser Tragödie zuerst auf der ideellen Ebene statt. Erst dann "fällt" auch die Tragödienhandlung: Zuleima eröffnet dem Geliebten die endgültige Trennung, nämlich ihre Heirat mit einem katholischen Spanier; Almansor stürzt aus seiner Seligkeit "Hinab", wie es heißt, "hinab, bis in den Schlund der Hölle!"

Der eigentlich tragische Kern dieser Tragödie ist also der Konflikt der Religionen, welcher sich als unüberwindbar herausstellt. Das fällt natürlich auf die spanischen Ereignisse des Jahres 1492 zurück. Die Eroberung Granadas durch die Katholischen Könige ist, so die Aussage, nicht nur eine soziale und kulturelle, sondern vor allem eine ideelle, eine religions- und kulturgeschichtliche "Tragödie". Mit dem Fall Granadas beginnt in Spanien das, was Heine später die "große Krankheitsperiode der Menschheit" nennen wird, welche für ihn bis in seine Gegenwart andauert: die Herrschaft der christlichen Entsagungs- und Sublimierungsideologie über den Geist und über den Leib.

Das tragische Ende der Handlung ist im Grunde nur eine Ausfaltung dieser Erkenntnis. Die beiden Liebenden stürzen sich in den Tod, und dieser "romantische" Liebestod ist lediglich - so jedenfalls in Heines Deutung - die Realisation der christlichen Doktrin, welche Zuleima schon vorher ausgesprochen hat:

Der Tod, der trennet nicht, der Tod vereinigt.
Das Leben ist' s, das uns gewaltsam trennt.

Unter diesem Vorzeichen bleibt nur der Rückzug aus dem Leben, der Sprung in den Tod.

Hier wird deutlich, dass Heine sich mit diesem Ende seiner Tragödie auch entschieden von der romantischen Verklärung des Liebestodes distanziert, eben gerade weil er ihn als Produkt der religionsgeschichtlichen "Tragödie" von 1492 deutet, womit er die auch die christologische Grundlage romantischer Sublimierungsvorstellungen in einem kritischen Licht erscheinen lässt. Außerdem bleibt er auch nicht bei der trostlosen Bilanz, beim - wie immer kritischen - Konstatieren des tragischen "Bruchs" der Geschichte stehen. Das letzte Wort der Tragödie lässt er nämlich einer anderen Figur, der des getauften Moslem Aly, der einen düsteren Blick in die Zukunft, aber immerhin: in die Zukunft tut.

Dieser Figur des Aly widmet Heine außer dem noch eine ganz aus der Handlung herausgehobene Passage in dem nach der tragischen Klimax eingeschobenen Chor. Hier untermauert er nicht nur seine ja insgesamt recht plakative Christentumskritik mit einer ausgiebigen Würdigung maurischer Kulturleistungen, welche die Parteinahme für die Mauren kulturhistorisch motiviert, er lässt seinen Chor auch, im Fortgang der Handlung einigermaßen überraschend, erklären, warum Aly in Spanien geblieben ist, obwohl der Preis die christliche Taufe war. Zum einen sei es, so der Chor, die Liebe zum "Vaterland", zu Spanien gewesen, die ihn hielt. Darüber hinaus aber sei es auch ein "großer Traum", eine revolutionäre Vision gewesen, in der "Glaubenskerker" und "Zwingherrnburgen" einstürzten, begleitet von den Namen "Quiroga und Riego", den Namen also der spanischen Revolutionsführer des Jahres 1820, Heines Gegenwart. Der Abschluss dieser Aly zugesprochenen Vision ist verschwommen, eine vage Freiheitsutopie. Und doch modifiziert diese Passage die gesamte Aussage der Tragödie grundlegend. Ihre Opfer, Almansor und Zuleima, erfüllen mit ihrem Liebestod die Tragödie des Jahres 1492. Dem entgegen postuliert Heine aber mit der Figur des Aly die historische Kontinuität, das Weiterleben mitsamt seinen Einschränkungen und Kompromissen zugunsten einer möglichen besseren Zukunft.

Damit scheint Heine schon hier sein späteres Modell einer klandestinen, unter der herrschenden Schicht und Ideologie sich leise durchsetzenden Geschichte und (jedenfalls hier) Revolutionsgeschichte zu entwerfen. In seiner tragischen Deutung der "Zeitenwende" von 1492 auf der Iberischen Halbinsel kommt er, gleichsam ihr zum Trotz, letztlich zu dem Schluss, dass eine auf die Zukunft gerichtete politische Geschichtssicht nicht bei der tragischen Festschreibung des historischen Bruchs allein stehen bleiben kann, sondern dass sie andere, weniger geradlinige und weniger offensichtliche Formen historischer Prozesse und Entwicklungen berücksichtigen und akzeptieren muss. Gerade im Rahmen der spanischen Geschichte und Geschichtsschreibung ist das besonders bemerkenswert, weil insgesamt erst in jüngerer Zeit zunehmend auch der gleichsam verborgene und gleichwohl gewaltige Einfluss der unter Zwang zum Christentum konvertierten Juden und Mauren und ihrer Tradition auf die spanische wie die europäische Kultur bis hin zur Aufklärung Beachtung gefunden hat (z. B. Yirmiyahu Yovel: Spinoza and Other Heretics, 1989).

Heines literarische Beschäftigung mit der spanischen Expansion in die Neue Welt gehört in den Kontext der Pariser "Matratzengruft" und der späten Gedichte des "Romanzero". Mit zudenken bei allen Werken dieser Zeit ist also der körperliche Zusammenbruch und die politische Enttäuschung nach der gescheiterten Revolution von 1848, die beide eine grundsätzlich pessimistische Sicht auf die Geschichte zumindest befördern. Dement sprechend spielt Heine auch in den "Historien", der ersten großen Abteilung seines "Roman zero", die europäische und orientalische Geschichte in allen möglichen Variationen und Zeiten und fast immer in absteigender Linie durch. Mit dem am Ende der "Historien" stehen den Versepos "Vitzliputzli" dehnt er das Geschichtspanorama in die Neue Welt aus und macht sich in dem "Vitzliputzli" vorangestellten "Präludium" auf, den ganzen europäischen Ballast endlich hinter sich zu lassen, mit einem Sprung über die Geschichte hinweg noch einmal die Neue Welt so zu betreten, wie Christoph Kolumbus sie 1492 zum ersten Mal erblickt hat:

Dieses ist Amerika!
Dieses ist die neue Welt!
Nicht die heutige, die schon
Europäisieret abwelkt!

Dieses ist die neue Welt!
Wie sie Christoval Kolumbus
Aus dem Ozean hervorzog.
Glänzet noch in Flutenfrische,

Träufelt noch von Wasserperlen,
Die zerstieben, farbensprühend,
Wenn sie küßt das Licht der Sonne.
Wie gesund ist diese Welt!

Ist kein Kirchhof der Romantik,
Ist kein alter Scherbenberg
Von verschimmelten Symbolen
Und versteinerten Perucken.

Aus gesundem Boden sprossen
Auch gesunde Bäume - keiner
Ist blasiert und keiner hat
In dem Rückgratmark die Schwindsucht.

Allerdings entpuppt sich der Aufbruch ins ganz Neue und Andere schon hier, zwar leise aber unüberhörbar, als Illusion. Nicht nur deshalb, weil die Geschichte natürlich nicht übersprungen werden kann, sondern auch, weil diese emphatisch entworfene Neue Welt selbst schon ein Wunschbild ex negativo ist. Kein Kirchhof der Romantik und ein gesundes Land ohne Rückenmarksleiden - damit spielt Heine natürlich auf seine eigene Rückenmarkserkrankung an.

Und dergestalt thematisiert das Präludium von vornherein das Problem der perspektivischen Voreingenommenheit bei der Begegnung mit dem Neuen, das anlässlich der Entdeckung und Erforschung der Südsee ja von Zeitgenossen Heines wie Georg Forster oder Alexander von Humboldt reflektiert worden ist (die Frage der jeweiligen "Brille", wie es bei Forster heißt). Der Entdecker, Heine wie Kolumbus, bleibt "Ein Gespenst der alten Welt!" Er schleppt das Bildinventar vom "Kirchhof der Romantik" mit sich, und es wird ihm gerade deshalb, komisch verzerrt allerdings, zurückgespiegelt. Angefangen vom witzigen Vergleich der unbekannten Vögel mit "Kaffeeschwestern" über die Suche nach Londoner oder Rotterdamer Vergleichserinnerungen für die neuen Blumen und Düfte verschwindet das "Neue" sukzessive und macht dem Mitgebrachten Platz. Der amerikanische Affe schlägt beim Anblick des Fremden ironischerweise ein Kreuz, und die Farben seines Hinterns erinnern den Autor ans nationalromantisch gefärbte Symbol seiner politischen Hoffnungen, deren Enttäuschung ihr Auftauchen als "Affensteißcouleuren" signalisiert:

Teure Farben! Schwarz-rot-goldgelb!
Diese Affensteißcouleuren
Sie erinnern mich mit Wehmut
An das Banner Barbarossas.

Das ist Im Grunde genommen der "systematische Kern" dieses Gedichts. Wenn es das "gesunde" Andere, das vom europäischen Geschichtsinventar Unberührte denn geben sollte, so ist es hier jedenfalls nicht zu entdecken. Ebenso, wie der Entdecker Kolumbus nicht von seinen christologischen und providentialistischen Vorstellungen, seinem Jerusalemer Kreuzzug und seiner Erwartung des nahen Cipango, das er finden will, loskommt, ebenso kommt das lyrische Ich des "Präludiums" nicht von der (seit Kolumbus' Zeiten an dauernden) "romantischen Krankheitsperiode" los - auch nicht in der Fiktion. Kolumbus' Landung in Guanahaní ist kein historischer Umbruch, nur eine qualitative Veränderung. Obwohl er, wie Heine das christologische Muster der Postfiguration aufgreift, uns wie ein zweiter Moses eine "ganze neue Welt [...] geschenkt" hat, konnte Kolumbus doch auch damit lediglich die "Kette", die uns bindet, "verlängern". Das Weltbild ist geschlossen, und zwar auf ernüchternde Weise.

Ich glaube nun nicht, dass dieses erkenntnistheoretische oder ethnologische Problem hier etwa im Zentrum von Heines Interesse stehen würde. Ebenso glaube ich nicht, dass Heine einen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen dem Rezeptions- und Präkonzept-Apparat des Entdeckers und demjenigen, was er dann entdeckt, systematisch würde fest schreiben wollen. Trotzdem faltet die Schilderung der blutigen Eroberung von Tenochtitlán durch Hernán Cortés und seine Leute im Hauptgedicht, "Vitzliputzli", diesen in seinem "Präludium" vorgeführten Zusammenhang aus, und zwar wieder, wie schon in der frühen Tragödie, unter dem Hauptaspekt des religiösen Überbaus, in dem keine Begegnung, nur eine immer wiederholte wechselseitige "Zerr-Spiegelung" stattfindet. So spiegelt beispielsweise der Aztekenherrscher Montezuma "negativ" das, was eigentlich die Spanier positiv auszeichnen sollte, indem er nämlich "noch an Treu und Ehre / Und an Heiligkeit des Gastrechts" glaubt. In der grässlichen Schlacht der noche triste fechten die Spanier unter dem Banner der Heiligen Jungfrau, das, nachdem Indianerpfeile ihr Herz durchbohrt haben, der mater dolorosa am Karfreitag gleicht, womit die Spanier reihenweise unter dem Opfervorzeichen eines blutigen Christentums zu sterben scheinen. Krasse Spiegelung dieser Opfervorstellung ist dann das tatsächliche Menschenopfer, welches die Azteken mit ihren spanischen Gefangenen begehen, als konkretistische Variation des christlichen Opferkults kenntlich gemacht dadurch, dass Heine die aztekische Priesterschaft ein "Mexikanisches Te-Deum" singen und im scharlachroten Kultusgewand auftreten lässt. Dass die übrig gebliebenen Spanier bei diesem Anblick das De profundis und das Miserere aus der katholischen Totenmesse anstimmen, ist die bittere, aber konsequente Ergänzung im katholisch-aztekischen Wechselspiel.

Zuletzt verläuft denn auch das gesamte Gedicht zirkulär. Ebenso, wie der Blick bei der ersten Begegnung mit der Neuen Welt auf die nationalromantisch gefärbte Erinnerung an des Autors enttäuscht geliebtes Deutschland traf (die Barbarossa-Fahne), kehrt Heine am Ende des gesamten Epos mit dem besiegten aztekischen Kriegsgott Huitzilopochtli-Vitzliputzli nach Europa zurück.

Nach der Heimath meiner Feinde,
Die Europa ist geheißen,
Will ich flüchten, dort beginn ich
Eine neue Carriere.

Ich verteufle mich, der Gott
Wird jetzund ein Gott-sey-bey-uns;
Als der Feinde böser Feind,
Kann ich dorten wirken, schaffen.

Quälen will ich dort die Feinde,
Mit Phantomen sie erschrecken,
Vorgeschmack der Hölle, Schwefel
Sollen sie beständig riechen.

Mein geliebtes Mexiko,
Nimmermehr kann ich es retten,
Aber rächen will ich furchtbar
Mein geliebtes Mexiko.

Sowohl das "Präludium" mit seinem hoffnungsfrohen Aufbruch in die Neue Welt und dessen vollständiger Rücknahme am Ende, als auch die völlig poetisch-phantastische Verwendung der aztekischen Kulte wie schließlich auch die Rückkehr der Zerstörung in Gestalt des verteufelten Huitzilopochtli-Vitzliputzli nach Europa zeigen, dass Heine eine grundsätzlich eurozentrische Sicht auf die Weltgeschichte nicht nur konstatiert, sondern offen bar für sich auch akzeptiert. Sein Blick ist grundsätzlich auf Europa, auf Frankreich, auf Deutschland gerichtet. Unter ethnologischem oder kulturhistorischem Geschichtspunkt kann man das natürlich kritisch betrachten. Gerade unter diesem Vorzeichen kommt Heine aber zu einer ganz anderen und jedenfalls auch innovativen Sicht auf die Ge schichte. In der Figur des Aly im Chor der "Almansor"-Tragödie deutete sich die Idee einer klandestinen, unterschwelligen Geschichte an, dort vor allem auf die politische Geschichte bezogen. Hier nun, im "Vitzliputzli" (wie auch in den "Elementargeistern", den "Göttern im Exil" und schon in der Schrift "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland"), gelangt Heine zu Ansätzen einer kulturpsychologischen Geschichtsinterpretation. Kultur und Religion der Azteken werden von den Spaniern zwar besiegt und zerstört. Aber sie verschwinden nicht. Vielmehr schleppt Europa sie als verdrängtes historisches Trauma im kollektiven Unbewussten weiter mit sich. Zumal Vitzliputzlis Plan, mit "Lilis" Hilfe die "Tugend" der Europäer zu "kitzeln, / bis sie lacht wie eine Metze", also die von den Seefahrern eingeschleppte Lustseuche in Europa zu verbreiten, lässt die Geschlechtskrankheit Syphilis zum psychogenetischen Symptom der geschichtlichen und religionsgeschichtlichen Verdrängung unter dem Vorzeichen der christlichen Herrschaft erscheinen, die sich ja, und das zumal in Heines Interpretation, nicht zuletzt durch ihre rigide Triebunterdrückung auszeichnet.

Insgesamt wäre also zusammenzufassen: Heine geht offenbar hinsichtlich des historischen Wendepunktes von 1492 zunächst von der Ansicht eines tragischen Bruchs aus. Von diesem verabschiedet er sich aber schon in der "Almansor"-Tragödie zugunsten einer - gerade unter dem Aspekt politischer Progression ja notwendigen - geschichtlichen Kontinuität. Dies aber nicht - und das ist der Unterschied zu einer finalistischen oder providentialistischen wie auch zur dialektischen Geschichtsdeutung - im Sinne einer eindeutig auf- oder auch absteigenden Linie, sondern zugunsten einer Vorstellung von historischer Mehrschichtigkeit, die schließlich auch die Perspektive auf die Möglichkeit einer kulturpsychologischen Geschichtsinterpretation eröffnet.