Wissenschaft als Kunst gedacht

Eine Frage der Vermittlung: Interview mit dem Naturwissenschaftler und Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer

Von Ariane GreinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ariane Greiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wieso wundern wir uns so gerne über die Werke von Künstlern, aber nicht über die von Wissenschaftlern? Die Antwort liegt in unseren geistigen Schubladen: In die der Kunst stecken wir so spannende Dinge wie Intuition, Kreativität und Schönheit. In die der Wissenschaft kommt vergleichsweise Nüchternes wie Rationalität, Logik und Gesetzmäßigkeit. Schließlich, davon gehen wir aus, findet der Naturwissenschaftler nur, was ohnehin schon da ist, wohingegen der Künstler erfindet, was es vorher noch nicht gab. Ein Irrglaube, wie Ernst Peter Fischer meint. Der Wissenschaftler plädiert für ein Öffnen dieser fatalen geistigen Scheuklappen. Fatal, weil wir uns so immer mehr vom Verstehen(-wollen) der Naturwissenschaften entfernen. Gute Vermittlung, so Fischer, kann dieser Blockade ein Ende setzen. Um die naturwissenschaftlichen Probleme zu verstehen, müsse man sie "als Kunst denken", sagt der quirlige Querdenker.

Von allen Wissenschaften sind die Naturwissenschaften vermutlich am schwersten zu vermitteln, da ihre eigentliche Sprache die Mathematik ist, die von unserer Alltagssprache denkbar verschieden ist. Stimmen Sie zu?

Ernst P. Fischer: Die Behauptung, man könne die Natur nur verstehen, wenn man die Mathematik beherrsche, geht auf Galileo Galilei zurück. Der sagte: "Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben." Das ist aber durch nichts bewiesen. Tatsächlich gibt es viele hervorragende Naturwissenschaftler, die Mathematik nicht beherrschen. Ein Beispiel aus unserer Zeit ist Jim Watson, der Erfinder der Doppelhelix, der große Lehrer der Molekularbiologie. Die Geschichte kennt viele solcher Beispiele. Aber trotzdem stimmt: Die einfachste Darstellung der Zusammenhänge in der physikalischen Natur gelingt mit Hilfe von Mathematik. Vor allem die großen Theorien von Albert Einstein klingen immer so, als seien sie reine Mathematik.

Aber Sie behaupten, man könne Einstein auch ohne mathematisches Talent verstehen.

Ernst P. Fischer: Das stimmt. Denn es kommt ja nicht auf die Mathematik selbst an. Sie ist eine Möglichkeit, ein Fenster, durch das Sie schauen, um die Natur zu verstehen. Galileo behauptet nun, es gebe nur dieses eine Fenster. Ich glaube das nicht. Woher kommt denn die Fähigkeit bestimmter Leute, mit Hilfe der Mathematik zu sehen? Offenbar haben sie ein besseres Verständnis für die mathematischen Zeichen. Wahrscheinlich entdecken sie darin Symbole. Und das Symbolische regt nicht nur ihren Verstand an, sondern ihr ganzes Wesen, ihr Gefühl. Der Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli versteht unter Symbolen abstrakte Zeichen, die emotional bewertet werden und insofern mit Gefühl beladen sind. Die Frage ist also: Durch welches Fenster müssen wir schauen, um den Kosmos zu verstehen? Die Mathematik ist ja nur ein Fenster von vielen. Und wenn sich alle davor drängen, sieht man womöglich gar nichts. Es lohnt sich vielleicht, ein anderes Fenster zu suchen.

Zum Beispiel das Fenster der Kunst. "Wissenschaft als Kunst denken" - dieses Zitat aus Goethes "Farbenlehre" findet sich in vielen Ihrer Bücher. Was macht die Kunst zur idealen Vermittlerin?

Ernst P. Fischer: Kunst ist etwas, das ich sinnlich erfassen und mit einem Erlebnis verbinden kann: das Erlebnis des Museumsbesuchs, das Erlebnis der Theateraufführung. Für das Verständnis des Menschen ist es zu wenig, Wissenschaft einfach nur zu erklären, d. h. die ganze Welt in Begriffe zu verwandeln. Wenn ich Sie frage: "Was verstehen Sie von Evolution?" und Sie sagen: "Ich verstehe etwas von Evolution", dann meinen Sie damit, dass Sie eben nicht einen Lexikonartikel oder ein Lehrbuch auswendig gelernt, sondern sich ein inneres Bild gemacht haben. Das ist Ihre Kreation, Ihr Kunstwerk. Denn ein Kunstwerk ist gewissermaßen das Zurschaustellen einer Vorstellung, die ein Künstler - in dem Falle Sie selbst - über einen Gegenstand entwickelt hat. Ich denke, in dieser Form sind Naturwissenschaften leichter und zudem als Einheit vermittelbar.

Gilt das auch für Kunstbanausen?

Ernst P. Fischer: Sicher. Wenn Sie über eine wissenschaftliche Fragestellung etwa ein Theaterstück schreiben, dann können Sie als Zuschauer die Argumente verfolgen, Sympathien für Figuren entwickeln und die konkrete Situation verstehen, in der jemand ein Argument entfaltet - all das können Sie gleichzeitig bewerten. Dadurch bekommen Sie eine Gesamtvorstellung. Wenn Sie allerdings auf eine einzelne Frage in der Wissenschaft eingehen wollen, also etwa die DNA-Sequenz von Schimpansen auf Chromosom 17, ist es unmöglich, darüber ein Theaterstück zu schreiben.

"Große Forscher", so schreiben Sie, "haben sich in den entscheidenden Augenblicken an der Schönheit orientiert". Einstein, Newton oder Heisenberg hätten sich im Zweifelsfall für die schönere Theorie entschieden. Was heißt denn "schön" in der Wissenschaft?

Ernst P. Fischer: Kriterien für Schönheit in den Naturwissenschaften sind zum Beispiel Symmetrie oder Einfachheit. Einsteins E = mc2 ist allein dadurch ästhetisch, dass es nur fünf Symbole hat. Sie brauchen keine langen Sätze. Oder nehmen Sie die Doppelhelix-Struktur: unser Erbgut in Form einer symmetrischen Spirale! Natürlich spielte bei dieser Kreation die Ästhetik eine entscheidende Rolle.

Wenn die Schönheit eine so zentrale Rolle in der naturwissenschaftlichen Forschung spielt, heißt das im Umkehrschluss, dass ein Forscher ohne Sinn für Ästhetik nie eine wirklich große Entdeckung machen kann?

Ernst P. Fischer: Ich denke, dass man ohne Sinn für die Naturschönheit auch kein Naturforscher wird. Meines Erachtens hat Immanuel Kant völlig Recht, wenn er annimmt, dass die Gesetze nicht in der Natur liegen und wir sie nur finden müssen, sondern dass wir selbst die Naturgesetze erfinden. Und wenn wir sie nun erfinden - wieso sollten wir ausgerechnet welche erfinden, die hässlich sind? Ich glaube, dass die primäre Art der menschlichen Tätigkeit, die über das Überleben hinausgeht, das ist, was man früher "poetisch" nannte - vom griechischen Wort "poiesis" - Hervorbringung. Und das Poetische ist immer das Schöne. Ich glaube, das Grundbedürfnis von Menschen besteht darin, Schönes hervorzubringen.

Anmerkung der Redaktion: Das Interview erschien zuerst im ARTE Magazin, Februar 2006. Wir danken der Autorin für die Publikationsgenehmigung.

Zur Person:

Ernst Peter Fischer (geboren 1947 in Wuppertal) ist diplomierter Physiker, promovierter Biologe und lehrt als apl. Professor an der Uni Konstanz Wissenschaftsgeschichte


Titelbild

Ernst P. Fischer: Einstein trifft Picasso und geht mit ihm ins Kino. Oder die Erfindung der Moderne.
Piper Verlag, München 2005.
254 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3492046827

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