Das leichte Sterben

Nicola Bardola versucht den Tod nach Wunsch zu verstehen

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Paul Salamun ist 75-jährig, ein erfolgreicher Bridgespieler und Mathematiker. Bei einer medizinischen Untersuchung wird Krebs festgestellt, Salamun will sich nicht operieren lassen, er will aber auch nicht leidend sterben. Und so beschließt er, mit Hilfe einer Sterbeorganisation seinem Leben ein Ende zu setzen, der 9. Dezember wird als Sterbetag festgelegt. Paul Salamun geht nicht allein, seine Frau Franca begleitet ihn auf diesem Weg ohne Zurück, etwas anderes steht nicht zur Diskussion. Franca Salamun ist so weit gesund. Das Ehepaar hat nur die beiden Söhne und deren Ehefrauen in ihr Vorhaben eingeweiht. Im Roman "Schlemm" versucht der eine Sohn, Luca, die Entscheidung der Eltern nachzuvollziehen und zu verstehen, und stößt dabei an Grenzen.

Konfrontiert mit dem Todestag - damit beginnt der Roman -, sieht sich Luca gezwungen, nachzuforschen, wer seine Eltern sind, die sich zu einem solchen Schritt entscheiden. Er hat noch knapp zwei Wochen Zeit. Luca erinnert sich an Familienferien im Engadiner Bergdorf, dort, wo die Eltern jetzt leben und bald sterben werden. Er erlebt noch einmal das Gespräch mit dem Vater, als dieser ihm von seiner unheilbaren Krankheit erzählt. Dabei geht es nicht um eine Diskussion, vielmehr stellt der Vater seinen Sohn vor vollendete Tatsachen. Luca sieht sich vor einem Dilemma: Er will nicht urteilen, verurteilen schon gar nicht, und er kann nicht verstehen, trotz allen einleuchtenden Erklärungen nicht. Eine Kindheitserinnerung setzt sich in ihm fest: Im Schwimmbad versetzt ihm ein Junge einen Stoss in den Rücken, er stürzt und verletzt sich am Fuß. Obwohl ihn die Eltern verarzten, fühlt Luca sich von ihnen verraten, er wird das Gefühl nicht los, dass Mutter und Vater den Jungen vielleicht sogar ermuntert haben. Damals verliert Luca das Vertrauen in die Eltern. Diesen Vertrauensverlust erlebt er erneut mit ihrer Entscheidung, er kann sich ihren Schritt zwar erklären, er möchte ihn verstehen, aber es gelingt ihm nicht. Direkt Stellung bezieht seine Frau Chris, die offen ausspricht, was andere nur zu denken wagen: "Verdammt, Luca! Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass sie sterben wollen."

Am zweitletzten Tag vor dem Sterbedatum wollen Paul und Franca eine letzte gemeinsame Wanderung unternehmen, wobei Paul noch einmal über sein Leben und dessen Abschluss nachdenkt. Dabei setzt er die Messlatte hoch an. "Das Ergebnis seines Lebens sollte ein Schlemm sein." Damit gemeint ist der Kontrakt, bei dem der Bridgespieler zwölf Stiche machen muss. Der Schlemm gelingt nicht leicht, dagegen ist der Tod, wie ihn Paul für sich und Franca plant, berechenbar und ohne Risiko. Der strahlend schöne Dezembertag bildet einen schmerzenden Gegensatz zum Vorhaben des Paars, jedes Erleben wird zum letzten, es gibt kein Danach mehr: Zwei Tage später werden sie nicht mehr da sein, für immer gegangen.

Diesen Spaziergang, beschrieben im zweiten Teil des Romans, gehen sie zwar noch gemeinsam, doch ist die Einsamkeit bereits sehr stark spürbar, die sie umgeben wird, wenn sie alleine sterben werden, obwohl sie nebeneinander liegen werden. Und nicht ganz glaubwürdig klingt der Satz: "Paul ist glücklicher, seitdem er den Tod nicht als Gegenteil, sondern als Ziel des Lebens versteht; seitdem er ihn verteidigt."

Paul ist der Rationalist, er lässt Verunsicherungen nicht zu, nachdem er sich entschieden hat. Anders Franca: Sie erlaubt sich die Gedanken an das, was sie verpassen wird. "Ich hätte Nora [Enkelkind] gerne weiter wachsen gesehen", sagt sie, um sich dann gleich wieder zurechtzuweisen: "Wir müssen nur richtig loslassen. [...] Einfach nur loslassen. Ich bin so weit." So ganz kann man es ihr nicht glauben. Die Zweifel wachsen, denn es bleibt unklar, ob es für Franca noch andere Gründe zu sterben gibt als den, dass ihr Mann diesen Schritt tun will. Doch weder Luca noch der Autor wagen, solche und ähnliche Fragen zu stellen. So wird denn dieser Spaziergang auch in einer sehr sachlichen distanzierten Sprache beschrieben, Gefühle werden tunlichst vermieden, und es wächst der Eindruck, dass dies unbedingt nötig ist, um ja nicht die Entscheidung zu hinterfragen.

Im dritten Teil werden die letzten Stunden fast minutiös genau geschildert: zuerst das gemeinsame Essen mit den Söhnen und deren Ehefrauen, am Abend vorher, der beste Barolo gehört dazu. Und der zweite Teil des Tagebuchs, den Paul seinen Söhnen überreicht. "Ich glaube nicht, dass ich heute Nacht oder morgen noch schreiben werde. Aber ihr könnt ja dann im PC nachsehen." Was Luca tut, nachdem alles vorbei ist: "9. Dezember. Ende. Ich kann nicht mehr schreiben. Keine Zeit. Die letzten Tage und Stunden mit den Kindern waren wunderbar. Danke euch! Wir können ruhig auf die letzte Reise gehen. Stellt euch vor, wir seien unterwegs zu unserem Wintergarten in Norwegen." Die letzte Reise ist vor allem für Paul nicht einfach. Franca stirbt bereits zehn Minuten nach der Einnahme der Barbiturate, bei Paul dauert es über zwei Stunden.

Nicola Bardolas Roman "Schlemm" hinterlässt einen schalen Geschmack. Fast klinisch kühl schildert der Autor sowohl das unfassbare Geschehen wie die Gefühle der betroffenen Familienmitglieder. Gleichzeitig ist das Buch ein wichtiger Beitrag zu einer Diskussion, die immer lauter wird und der nicht auszuweichen ist. In der Schweiz ist die Selbsttötung von alten Menschen kein Tabu-Thema (mehr). Es ist die Rede vom Selbstbestimmungsrecht des Menschen, vom Recht auf einen würdigen Tod, vom Recht, einem trostlosen entwürdigenden Dahinsiechen im Pflegeheim ein Ende zu setzen. Unheilbar kranke Menschen, die im Besitze ihrer geistigen Fähigkeiten nach reiflicher Überlegung entscheiden zu sterben, sollen diese Möglichkeit haben. Und zwar sollen sie einen sicheren, angenehmen Tod sterben können. Dem ist an sich nichts entgegenzusetzen. Doch trotzdem, es stellen sich Fragen: Wo beginnt Leiden? Wer entscheidet darüber? Wo sind die Alternativen zum selbstbestimmten Tod? Nämlich ein Altern und Gebrechlichwerden in Würde? Was bedeutet dieser Schritt für die Angehörigen? Nicola Bardola zeigt in seinem Roman auf, dass wir noch weit davon entfernt sind, die Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem selbst gewählten Tod im Alter stellen, beantworten zu können. Und er fordert zur Diskussion auf, was auf jeden Fall zu begrüßen ist.


Titelbild

Nicola Bardola: Schlemm. Roman.
A1 Verlag, München 2005.
208 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3927743798

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