Wir sind, was wir nicht sind
Wolfgang Kabateks Streifzug durch die "andere" Welt des Weimarer Kinos
Von Eva-Christina Glaser
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie dämonische Genialität des "Dr. Mabuse", das symphonische Grauen von "Nosferatu", die alptraumhafte Atmosphäre im "Cabinet des Dr. Caligari", der parasitäre Wahnsinn des Kindermörders in "M" und die übermächtige Sterilität der Maschinenwelt in "Metropolis" - dies sind die heute wohl populärsten Beispiele für die überragende Produktivität des frühen deutschen Kinos, das zur damaligen Zeit auf internationalem Parkett noch unmittelbar hinter der amerikanischen "Traumfabrik" rangierte.
"Mabuse" & Co. haben inzwischen Kultstatus erlangt und somit über die Jahrzehnte kaum an Faszinationspotential eingebüßt. Wie aber ist es zu erklären, dass die deutsche Leinwand in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen vornehmlich von Wahnsinnigen, Monstern und Maschinen, von Hypnotiseuren, Manipulatoren und scheinbar allmächtigen Über-Menschen bevölkert wurde? Wie kommen diese Phänomene zur Darstellung, wie wurden sie vermarktet und rezipiert, und was lässt sich anhand dieser "Verarbeitungsmuster" über die Gesellschaft aussagen, die sie generierte?
All das sind Fragen, die Wolfgang Kabatek in seiner Dissertationsschrift in den Blick nimmt. Jedoch trennt der Autor nachdrücklich zwischen explizit als "künstlerisch" etikettierten Produktionen und solchen, die vornehmlich zur Unterhaltung eines Massenpublikums konzipiert waren. Fokussiert werden dabei auch und vor allem Reise-, Forschungs-, Expeditions- und Abenteuerfilme, die das Publikum in exotische (Phantasie-)welten entführen und die in der bisherigen Forschungslandschaft eine eher marginale Position innehatten.
Das Medium Film definiert Kabatek als "Bewegungsschrift", in die sich Konflikte, Ängste, Sehnsüchte und Wünsche der Menschen in der modernen Gesellschaft als "'Lichtspur' und Sehnsuchtsbild einschreiben" - kinematografische Praxis als Zeitenspiegel also. Im Unterschied zu den beiden wohl prominentesten Abhandlungen zur Weimarer Filmgeschichte, nämlich Siegfried Kracauers "Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films" (1947) und Lotte H. Eisners "Die dämonische Leinwand" (1952), möchte der Autor jedoch eine "teleologische Argumentation ex post", also aus der "zeitgeschichtlichen Perspektive der Ereignisse von 1933-1945" heraus, vermeiden. Anstelle einer Entlarvung der vermeintlich homogenen "Mentalität der Zeit" als konsequentem Wegbereiter der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft geht es ihm darum, anhand beispielhafter Filmanalysen sowie mannigfaltigen Archivmaterials wie Zensurkarten, Drehbüchern, Rezensionen und Werbematerialien, "den annähernd versunkenen Kontinent des Weimarer Kinos" gleichsam "medienarchäologisch" zu rekonstruieren, um darauf basierend schließlich "indirekte" Aussagen über die Gesellschaft treffen zu können.
Der Fokus dieser Rekonstruktion richtet sich auf die "Imagerie", d. h. "die Herstellung, Zirkulation und Akkumulation von Bildern" des Anderen, wobei dieses Andere in Kabateks Definition als synonym zum Fremden gebraucht wird und sowohl die Thematisierung und Darstellung topografisch entlegener Welten als auch "das Andere der Vernunft", wie es etwa in den hier eingangs genannten Filmen zutage tritt, umfasst. In der Ambivalenz von Verführung und Abschreckung zwischen amor alieni und horror alieni bzw. zwischen fascinans und tremendum changierend, erscheint die im Kino zu beobachtende, gleichsam eskapistische Konzentration auf das Andere/Fremde bei Kabatek als geradezu symptomatisch für die Zeit der Weimarer Republik, die sich durch die "fortwährende Auflösung vorgeblich verbürgter Gewissheit" und daraus resultierender Unentschiedenheit charakterisiert. Die "Imaginationsmaschinerie des Kinos" fungiert nach Kabatek dabei als "Mythendistribuent par excellence" und das so populäre Thema des Anderen/Fremden als "kontinuierliche Folie in der Suche nach dem Selbstbild - und damit nicht zuletzt nach nationaler Identität".
So weit der vielversprechende Ansatz einer Untersuchung, die den Leser indes etwas ratlos zurücklässt. Während eine eingangs zu erwartende präzise Formulierung der Arbeitshypothesen sowie der zugrunde liegenden Fragestellung fehlt, erfährt man im Zuge der acht relativ unzusammenhängenden Kapitel zwar durchaus einiges über die "vielfältigen diskursiven und ästhetischen Bezüge" der bildgewordenen Fremdheitsmuster. Diese Bezüge konkretisieren sich zunächst durch mentalitätsgeschichtliche Überlegungen, durch die Darstellung unterschiedlicher Authentisierungsstrategien sowie durch eine Untersuchung der "Stellung der Kinematographie" in der Weimarer Republik. Im Anschluss daran betrachtet der Autor die Beziehungen und Wechselwirkungen von "Massen- und Elitekultur", analysiert anhand eines Filmbeispiels den damals besonders beliebten Imaginationsraum Indien und versucht sich an der Generierung einer "visuellen Anthropologie", bevor er seine Ausführungen mit einer Skizzierung der Filmtheorie Béla Balázs' sowie einer Veranschaulichung des besonderen Reizes der Insel als Lieferant von "Gegen-, Sehnsuchts- und Fluchtbildern" abschließt.
Wenn in Bezug auf diese Vorgehensweise hier jedoch von einem "Streifzug" die Rede ist, so ist diese Vokabel durchaus wörtlich zu verstehen. Denn was einerseits die Stärke von Kabateks Arbeit ausmacht, markiert zugleich auch ihre größte Schwäche - zumindest wenn man von der (für eine wissenschaftliche Abhandlung unangemessen) hohen Zahl an Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehlern sowie von den teils allzu verqueren und antiquierten Formulierungen absieht. So wirkt die Vielzahl unterschiedlicher Ansätze und Diskurse zwar grundsätzlich interessant, konterkariert aber gleichzeitig eine kontinuierliche Argumentationsführung. Zu viele Ideen werden aufgegriffen, um sie allesamt konsequent zu Ende denken zu können, zu viele Autoritäten allzu unvermittelt angeführt, als dass sie sich in einen homogenen Rahmen fassen ließen. Dabei bewegt sich der Autor streckenweise gleich einem Irrfahrer, von dem man den Eindruck gewinnt, als wüsste er nicht so recht, wo er sich gerade befindet, weshalb er immer wieder neue Wege einschlägt oder die Verfolgung anderer, bereits beschrittener Pfade mehr oder weniger willkürlich erneut aufzunehmen scheint. Wo der Leser so auf einheitsstiftende Resümees hofft, erwartet ihn Nebensächliches, wo er Antworten sucht, eröffnen sich neue Fragen.
Auch was die versprochenen Filmanalysen angeht, fällt die Praxis letztlich eher enttäuschend aus. Zwar wird Kabatek nicht nur seinem interdisziplinären, sondern ebenso einem intermedialen Anspruch gerecht, indem er neben den Filmszenen auch Werbeplakate und Textbelege in die Untersuchung mit einbezieht. Dabei bleibt der Korpus der in den Blick genommenen Materialien allerdings recht begrenzt, was einerseits sicherlich der lückenhaften Überlieferungssituation zu schulden ist. Andererseits erscheint jedoch nicht ganz nachvollziehbar, weshalb der Autor eine Analyse des Kinos der Zwischenkriegszeit ankündigt und diese dann mit Robert Wienes "Cabinet des Dr. Caligari" (1919/20) sowie Fritz Langs "Die Spinnen" (1919/20) und "Das indische Grabmal" (1921) in der Hauptsache auf drei Filmbeispiele aus einem sehr frühen und vergleichsweise engen Zeitraum beschränkt.
Weniger - im Sinne eines von vorneherein konziser gefassten Gegenstandsrahmens - wäre hier also sicherlich mehr gewesen, auch wenn das "Mehr" respektive das "Zu viel" an Information dennoch nicht zwangsläufig negativ zu bewerten ist. Denn ebenso wie Kabateks zentrale These die zu sein scheint, dass sich im Falle der Weimarer Gesellschaft Identität daraus gewinnen ließ, dass man das zur Darstellung brachte, was einem selbst fremd bzw. was in irgendeiner Form exotisch und damit anders war als man selbst, - kurz: daraus, "wie der Bildproduzent sich nicht sieht" -, so wird auch der eigentliche Wert der Kabatek'schen Untersuchung erst dadurch erkennbar, dass man sich bewusst macht, was die Dissertation nicht ist, was sie nicht leistet und was sie nicht aussagt. Wohl erst mit Rückgriff auf diese "negative Folie" lässt sich die Absenz eines definitiven analytischen Erkenntnisgewinns verschmerzen und diese "kleine Medien- und Kulturgeschichte des Anderen im Weimarer Kino" als Inspirationsquelle und Nährboden für weiter- und vor allem tiefergehende medienhistorische und kulturwissenschaftliche Untersuchungen wertschätzen.