Aus der hohen Schule des Zeitgeistes

Sozio-Idylle als Rettungsplan in Frank Schirrmachers "Minimum"

Von Georg SieberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Sieber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ein studierter Germanist ein Sachbuch schreibt, wird es zumindest lesbar sein. Wenn er obendrein in der Anglistik bewandert ist, wird er seine Leser nicht mit Denglisch quälen. Und der studierte Philosoph lässt hoffen, er liebe die Weisheit, woher sie auch kommen möge. Frank Schirrmacher hat seinem aktuellen Weisheits-Werk allerdings den Titel "Minimum" gegeben. Das Wort taucht im ersten Teil auch mehrfach auf. Da schaut man dann doch irgendwann ins Lexikon. Der Mann des Wortes wird sich bei diesem Titel ja doch etwas gedacht haben.

Minimum, oft übersetzt als Kleinstes, Geringstes, ist allerdings weder deutsch noch englisch. Es ist das sächliche Hauptwort zu dem lateinischen minimus, der Kleinste und die Steigerung von minus, der sächlichen Form zu minor, kleiner, geringer. Das zugehörige Tätigkeitswort ist minuere, zerkleinern, verringern, schmälern. Dieser Tätigkeit setzt das Minimum jene Grenze, bei der das Unteilbare, das Individuum (das Unteilbare) beginnt. Die auf Größe und Wachstum eingeschworenen alten Römer hatten freilich das Wort erst aus dem Griechischen entleihen müssen (minythein) - sie hatten keine eigene passende Vokabel für diesen Vorgang, bei dem ein Ganzes in seine kleinsten Teile, die minima, zerlegt wird. Erst viel später bekam Minimum die weitere Bedeutung der Mindestmenge einer Substanz, die in einer Mixtur zu deren Wirksamkeit erforderlich ist.

Schirrmacher nun legt sich aber nicht auf eine präzise Wortbedeutung fest. Das Entschlüsseln des hie und eingestreuten Minimums überlässt er der Vorstellungskraft des Lesers:

- einem Minimum kann man entgegenstreben (Seite 22),
- ein Minimum kann herrschen (Seite 23),
- ein Minimum kann man überstehen (Seite 24),
- auf ein Minimum kann die Geburtenrate sinken (Seite 31),
- zum Minimum kann etwas (ein Kind) führen (Seite 70).

Mit der hier gebotenen exegetischen Vorsicht kann man zu der Annahme kommen, dass Frank Schirrmacher mit Minimum eigentlich einen Zustand benennen will, einen wahrscheinlich ihm selber ziemlich unerwünschten Zustand. Leider verliert er schon ab Seite 70 die Freude an seinem Titelwort, das ja ein Schlüsselwort hätte sein können. Man kann nur aus dem weiteren Text schlussfolgern, dass sein Minimum mit einer besonders geringen Anzahl verwandtschaftlicher Beziehungen zu tun hat, die wiederum eine Folge geringer Fortpflanzungsleistung ist.

Man muss dazu sagen: Es geht ihm nicht um Erhalt und Fortpflanzung der Menschheit an sich. Es geht ihm um Deutschland, genauer, um die Fortsetzung jener deutschen Gesellschaft, wie er sie sieht und zu verstehen glaubt. Die Geburtenrate sinkt und sinkt - übrigens mit zwei kurzen Unterbrechungen schon seit 1850. Das lässt ihn grübeln: die deutschen Kinder von heute würden kaum noch Kraft für eigene Kinder übrig haben, weil sie doch ihre Eltern aushalten müssten, da ja wohl bald das deutsche Renten- und Sozialsystem am Ende sei. Die Kinder von heute würden dann schon von sich aus selber gar keine Kinder mehr wollen - ein Teufelkreis, besser: eine Abwärtsspirale. Schirrmacher deklariert als die rettende Medizin eine mystisch anmutende "moralische Ökonomie", die irgendwie mit dem Ergreifen von Verantwortung für den Erhalt der Gesellschaft zu tun haben muss. Konkret meint er aber die Rückbesinnung auf die überlebenssichernde Familie, die er als wahre Urgewalt beraunt. "Wir brauchen die Familie als etwas, das stärker ist als der schwache Staat", hat er dazu in Interviews zu seinem neuen Werk gefordert. Denn, so Schirrmacher wichtig, "soziales Kapital" entstehe nur dort, wo es Kinder gebe. Und das muss man so stehen lassen.

Nun hat es ihm Kurt Biedenkopf eigentlich schon auf den Punkt gebracht. Schirrmacher zitiert ihn in einem seiner Interviews sogar, es gehe "bei den ganzen Diskussionen heute um die Rückabwicklung unserer Illusionen". Da hätte der Einfall nahe gelegen, dass auch "die Familie", insonderheit die kinderreiche, eine solche Illusion aus feinbürgerlichen Tagen sein könnte, die dann aus einer gewiss nicht wirklich guten alten Zeit stammte und deswegen längst zur Rückabwicklung anstünde. In jener Zeit nämlich ergab sich aus dem Miteinander von Mann und Frau der so geheißene Kindersegen wie von selber. "Wo Gott gibt ein Häschen, da gibt er auch ein Gräschen!" beruhigten Pfarrer oder Bürgermeister schon reich gesegnete Paare. Mit 10 oder 12 Jahren waren da die Kinder aus dem Haus. Und man starb spätestens, wenn sich die Erwerbskraft dem Ende zuneigte. Der Nachwuchs wurde auch wirklich gebraucht, wenn Kriege oder Krankheiten die Bevölkerung reduzierten. Falls nicht, umso besser - da konnten Dorf und Städtchen wachsen.

Seither hat sich aber doch Einiges geändert. Unter anderem bleiben die Kinder heute den Eltern einschließlich all der vordem ganz unbekannten Unterhalts- und Haftungsrisiken bis ins Erwachsenenalter hinein. Da wäre wirklich ein Leichtfuß, wer nicht darauf käme, heutige Eltern würden für die letzten Jahrzehnte des eigenen gesegneten Alters kaum mehr sparen können und dann scharenweise ins Elend fallen.

Frank Schirrmacher will kein Leichtfuß sein. Da sucht er sich als Refugium den Salon des 19. Jahrhunderts, in dessen biedermeierlichem Dunst die "Werte" genauso üppig gediehen wie all das, was sich im 20. Jahrhundert als Unwert erwies. Schon damals ereiferten sich die beliebten umherreisenden Salonredner, wie etwa der Urheber des Wortes Antisemitismus, Wilhelm Marr: Die Deutschen sterben aus, wenn es so weitergeht. Da möchte man Schirrmacher doch sogleich trösten und ermutigen, doch mehr Vertrauen in die heute kinderreicheren Unter- und Zuwandererschichten zu setzen, aus denen der Mittelschicht wohl frisches Blut zufließen wird. Denn 2050 oder 2080 werden gewiss die heute bei uns geborenen Al-Keishas oder Centecs so deutsch sein wie inzwischen die Kinder und Enkel der um 1900 bei uns geborenen kleinen Olschewskis, Schewsziks und Kasprowskis. Dass der Alptraum vom Aussterben eben nur ein Traum ist, haben aber auch sachkundige Bevölkerungsstatistiker seit Frank Schirrmachers "Methusalem-Komplex" so ausführlich und häufig vorgetragen, dass man sich nur wundern kann, wie wenig davon bei ihm angekommen ist.

Wenn aber schon die Sache mit dem Aussterben insgesamt nicht wirklich stimmen sollte, dann könnte es ja doch sein, dass wenigstens die vom Grundgesetz zum Schutzgut erklärte Familie ausstirbt. Da aber sei Schirrmacher vor! "Von der Familie hängt die Zukunft unserer Gesellschaft ab!" hebt er den Zeigefinger. Dazu nimmt er von Anfang bis Ende immer wieder Kredit von dem tragischen Schicksal eines Siedlertrecks auf dem Weg nach Kalifornien, der im Winter 1846/47 auf einer Passhöhe der Sierra Nevada einschneit - 81 Personen, von den Alleinreisenden kamen die meisten um, während zwei Familiengruppen überwiegend überlebten. Diese Episode hatte ein Anthropologe namens Donald Grayson (1993) als "Beweis" für seine Lehre in Anspruch genommen: Familienbindung ließ und lässt den Menschen überleben. Bei diesem Grayson greift nun Schirrmacher gleich so herzhaft zu, dass ihm Lehre und Illustration völlig durcheinander geraten.

Schirrmacher beruft sich dann auch auf eine zweite Geschichte, den Bericht über den Brand der Freizeitanlage Summerland, Long Island, im Jahr 1973, die über 50 Todesopfer forderte. Wahrscheinlich hätte ja die bestens dokumentierte Flugplatzkatastrophe von Ramstein, 1988, 67 Tote, viel besser zu Graysons Mutmaßungen gepasst. Denn Jonathan Sime (1983), ein Psychologe, untersuchte das Fluchtverhalten der Summerland-Opfer mit dem Ergebnis, dass es gerade Familien waren, die ihre rettende Evakuierung vernunftwidrig verzögerten, um sich erst zu sammeln und untereinander zu verständigen, schließlich auch noch die vorgesehenen Fluchtwege verfehlten und dadurch umkamen. Damit war ein entgegengesetzter episodischer "Beweis" zur Hand, dass Familie eben nicht überleben lässt. Um aber die Beziehung zur Geschichte des Siedlertrecks zu retten, schlägt Schirrmacher eine verwegene Volte: Dafür habe sich aber das einzelne Familienmitglied darauf verlassen können, jedenfalls mitgenommen zu werden...! Schirrmachers Lob der Familie ist eben unerbittlich.

Prinzipienfest blendet er aus, dass der homo sapiens von der urzeitlichen Menschengemeinschaft ja doch keineswegs gleich und ausschließlich zu den kulturellen Befindlichkeiten der Bürgerfamilie des 19. Jahrhundert überging. So lässt Schirrmacher denn auch leider im Ungefähren, wie man sich unter den heutigen Umständen in Deutschland seine Familie vorzustellen habe.

Familie ist ein Fremdwort wie Minimum. Was immer die Philosophie, die Pädagogik oder die Theologie diesem Wort inzwischen alles aufgeladen haben mögen - Familie meinte und hieß ursprünglich nicht weniger und nicht mehr als Dienerschaft. Wer je eine Famulatur abzuleisten hatte, spürt in Familie noch die Abhängigkeit, die Unterordnung, die nicht nur disziplinarische Unterwerfung des famulus und der famula unter ihren Herrn und Meister. Natürlich, der Hausherr, die väterliche Gewalt, Vaterhaus und Vaterland, das alles sind bewährte Anleihen vom römischen pater familias, dem günstigenfalls gütigen und fürsorglichen Gründer der Familie. Bis heute ist der nicht nur von den Medien gern gehätschelte Traum von der Lebensform der kinderreichen Groß- und Mehrgenerationenfamilie durchaus lebendig - soweit Vermögen und Einkommen vorhanden. Jüngere Zeitgenossen übrigens bezeichnen eine vielköpfige und einflussreiche Oberschichtfamilie meistens als Clan: Wenn sie nämlich nur vielköpfig und nicht reich wäre, hieße es spitzmündig nur "Sippschaft".

Politiker dagegen gehen mit dem Wort Familie eher großzügig und derzeit geradezu inflatorisch um, sobald auch nur ein Kind in Sicht ist. Wer aber Mann und Frau mit ihrem einen Kind in einer 3-Zimmer-Wohnung als "Familie" etikettiert, der will ihnen wohl eher Sand in die Augen streuen und solcher Existenz eine Art naturgesetzlicher Sinnhaftigkeit überstülpen. Deren Risiken und eventuelle Notlagen, so prophezeit Schirrmacher, würden durch "familiäre Netzwerke" zuverlässig aufgefangen werden. Dass es solche Netzwerke allenfalls als Ausnahmeerscheinung gab und gibt, ficht unseren Familienphilosophen nicht weiter an. Es sei doch nur eine Folge des Sozialstaates, dem "ganze Generationen" so sehr vertraut hätten, dass man familiäre Beziehungen habe schleifen und Bindungen sich auflösen lassen. Man habe sich ja dauerhaft abgesichert fühlen dürfen. Naja. Wenn es denn so wäre, dann wüsste man doch gleich, was zu tun ist: Statt Sozialstaat ein bisschen Not, Hunger, vielleicht auch ein Krieg - dann kommen die Leute schon wieder zusammen, besinnen sich auf die Urgewalt der Familie, verbünden sich zu Netzwerken und alles wird wieder gut!

Dass die Idee des Sozialstaates am Ende sei, kann man aus den unterschiedlichsten Gründen glauben und vertreten. Die deutschen Sozialkonzerne richten sich bereits fest darauf ein und expandieren. Die Kirchen begründen damit ihre neue Hoffnung auf nachhaltigen Zulauf. Der sehr fleißige und beliebte US-Publizist Phillip Longman schließt daraus auf die Rückkehr des Patriarchats und der nicht minder fleißige Frank Schirrmacher eben auf eine Renaissance der Familie. Es gehört zwar bewundernswerter Wagemut dazu, aus langfristigen, komplexen und zudem nichtlinearen Prozessen kurzfristige Prognosen zu schneidern. Interessant ist das aber allemal.

Frank Schirrmacher ist überdies ein anregender, temperamentvoller Schreiber, dem man ohne langes Nachdenken gerne von Seite zu Seite folgt. Wer sich zuvor schon mit den Themen Geburtenrate und Familie beschäftigt hat, wird Schirrmachers zwischen Sozialreport und Psychoanalyse irrlichternden Einfällen nicht immer folgen wollen, er wird die den 163 Seiten Text beigefügten 159 Anmerkungen vielleicht lästig finden und das umfangreiche Inhaltsverzeichnis allzu beliebig. Aber Schirrmacher ist zweifellos ein begnadeter Kulissenkünstler, der schon mit seinem "Methusalemkomplott" dem gehobenen Stammtisch zu aufschlussreichen Nickproben verhalf.

Vor der Kulisse "Minimum" werden sich nicht nur gehobene Stammtische, sondern auch die derzeit tonangebenden familienpolitischen Akteure gerne einfinden. Wie bringt man nur das Kunststück fertig, Frauen aus dem Arbeitsmarkt herauszuhalten, auf ihre Reproduktionspflichten einzuschwören und zugleich zufrieden zu stellen? Da kann das Zauberwort "Familie" wirklich gute Dienste leisten. Wenn es dann auch noch zelebriert wird von dem leibhaftigen Mitherausgeber einer großen Tageszeitung, einem Germanisten, Anglisten und Philosophen, dann muss man sich vor Konfrontationen mit dem wirklichen Leben und vor Widersprüchen kaum mehr fürchten. Ohnehin stehen die Chancen ja nicht schlecht, dass am Ende alles ganz anders kommt - im Minimum.


Titelbild

Frank Schirrmacher: Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft.
Blessing Verlag, München 2006.
185 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3896672916

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