Brandstifter und Bibliothekare

Nicholson Bakers klagt die Zerstörungswut in den Bücherparadiesen an

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Entzündete ein Bibliothekar inmitten seiner Bestände ein Großfeuer, die Empörung wäre groß, handelte doch der Täter gegen die Grundgesetze seines Berufs. Dass ganze Bibliotheken vergleichbar handelten, scheint undenkbar.

Deshalb klingt nach Verschwörungstheorie, nach Wissenschaftshorrorgeschichten, nach bibliophiler Hysterie, was der geniale Autor Nicholson Baker in seiner so spannend wie erschütternd zu lesenden Anklageschrift "Der Eckenknick" zusammengetragen hat. Leider aber ist alles genau belegt: Seit gut einem halben Jahrhundert zerstören und verwüsten - in bester Absicht - Technokraten und Manager unter den Bibliothekaren wertvollste Buchbestände in den USA. Und leider hat ihr Beispiel auch in Europa Schule gemacht.

Es geht dabei um die Mär vom Säurefraß und die Schauergeschichte vom unausweichlichen Platzmangel: 1. Die Herstellung von holzhaltigem Papier - seit 150 Jahren in industriellem Maßstab - führt zu einem höheren Säuregehalt, weshalb die Seiten binnen Jahrzehnten zu Staub zerfallen würden. 2. Zigtausende Neuerscheinungen jedes Jahr brächten Bibliotheken in überschaubarer Frist dazu, all ihr Geld für Neubauten von Magazinen zu verbrauchen.

Obwohl beides teilweise oder ganz auf unwissenschaftlichen bzw. falschen Behauptungen beruhte und obwohl empirische Daten fehlten, machten sich vor 50 Jahren die Technokraten in den Bibliotheken, darunter viele Ex-Rüstungsmanager, an die Arbeit. Die Lösung hieß für sie Entsäuerung und Übertragung der Daten auf andere, kleinere Medien. Das klingt bücherfreundlich und sinnvoll.

Was tatsächlich geschah, war aber der blanke Horror. So muss es selbst derjenige sehen, der kein Bücherfreund, sondern "nur" Steuerzahler ist. Zig Millionen Dollar verpulverte man für die Erforschung von Entsäuerungstechniken und in die Entwicklung der Mikroverfilmung. Brandgefährliche Chemikalien, sonst für Raketenantriebe benutzt, setzte man ein, um die Säure unschädlich zu machen; mit dem Effekt, dass Menschen und Bücher in Mitleidenschaft gezogen wurden. Um Bücher oder Zeitungen auf Mikrofilm zu bannen, riss man gleich den Einband ab, um sie leichter fotografieren zu können. Anschließend verscherbelte oder makulierte man die Bücherleichen. Und bei alle dem geht es unter anderem um eine der ehrwürdigsten Bibliotheken der Welt, die Library of Congress, und es geht um tausende Tonnen unersetzlicher Quellen!

Nicholson Baker weist mit bitterer Ironie und bewundernswerter Akribie nach, wie einige Verantwortliche im Rausch des Fortschritts das Ethos des Bewahrens in den Wind schrieben. Ab und zu freilich lässt er seiner Wut und Verzweiflung freien Lauf, wenn er Massen an zerfledderten Prachtbände beschreibt oder die blinde Arroganz der Machbarkeitsfanantiker. Dabei müsste deren Gedankengebäude eigentlich längst eingestürzt sein, denn das säurehaltige Papier erweist sich als wesentlich haltbarer als gedacht, und die gewaltigen Summen für Digitalisierung und Mikroverfilmung sind um ein Wesentliches höher, als selbst großzügigste Neubauten gekostet hätten.

Das Problem mag klein erscheinen, doch wir wissen einfach nicht, welches Wissen kommende Forscher benötigen werden. Bibliotheken haben die Aufgabe, für kommende Generationen Quellen zu bewahren. Stattdessen werden sie im großen Maßstab zerstört und ausgesondert im irrigen Glauben, sie durch Mikrofilme und Datenspeicher ersetzt zu haben. Aber es gilt für Bücher, mehr noch für Zeitungen das Gleiche wie für Gemälde oder gar Skulpturen: ein Schwarzweiß-Foto ersetzt nicht das Original! Von den Fehlern der Kopierverfahren zu schweigen.

Nicholson Baker hielt sich übrigens nicht mit der Anklage auf, er gründete im Alleingang eine Stiftung, die Tausende von Zeitungsbänden vor der Makulatur gerettet hat. Hoffen wir, dass hiesige Bibliotheksausschüsse und Kontrollgremien das brennende Problem endlich ebenfalls erkennen!


Titelbild

Nicholson Baker: Der Eckenknick oder Wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Susanne Höbel und Helmut Friedlinghaus.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
492 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3498006266

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