Der Gegenstand bleibt gleich, die Brille wechselt

Zum ambivalenten Verhältnis von Fußball und Literatur

Von Heiko GrunenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heiko Grunenberg

Die WM 2006 ist da. Doch wehe denen, die dem Trubel entkommen möchten. Die Chancen stehen schlecht. Denn alle zwei Jahre, immer wenn ein internationales Großturnier ansteht, greift das Interesse am Fußball radikal um sich und zieht Dinge in seinen Bann, die in etwa so viel mit den 22 kickenden Leuten zu tun haben, wie seinerzeit der Schalke-Vereinspräsident Günter Eichberg, der so genannte Sonnenkönig, zur Zeit seines Amts (1989-1993) mit seriösem Wirtschaftsgebaren.

"Soccer sells" - das verbürgt jeder Supermarkts-Prospekt, der derzeit täglich in unseren Briefkästen landet. Obwohl es zu erwarten war, verblüfft es, welche Alltagsgegenstände mit einer Halbwertszeit ihrer Funktionstüchtigkeit von etwa sechs Wochen sich in eine Fußballform um-designen lassen.

Fußball und Kunst

Dazu gehören natürlich auch die Kunst und der literarische Vermarktungskreislauf. Wohlgemerkt sind diese Sphären nur dann überhaupt logisch trennbar, wenn Fußball nicht dem Kreis künstlerischer Aktivitäten zugerechnet wird. Nimmt man nicht mehr das herkömmliche Kunstverständnis zum Maßstab, wie es aus Zeiten vor der Bildungsexpansion herrührt, so ist diese Setzung immerhin zweifelhaft.

Bislang ist jedenfalls nirgends eine schlüssige und nicht normative Abgrenzung der Fußballwelt von der der Kunst gefunden worden. Aus analytischen Gründen wird die falsche Trennung dennoch beibehalten.

Folgende Thesen zeichnen die Besonderheit der von jeher schwierigen Beziehung zwischen Fußball und Kunst im Vorfeld des 9. Juni 2006 aus. Erstens: Das Verhältnis zwischen Fußball und Kunst war quantitativ und qualitativ noch niemals in einem vergleichbaren ästhetisierten Zustand wie heute. Zweitens: Ein inhaltliches Anbiedern der Kunst an ein Weltgroßereignis hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben, sofern man religiöse Abhandlungen außer Betracht lässt. Drittens: So schnell wie kein anderes Ereignis zuvor wird der Fußball-Hype auch wieder verschwinden und in den traditionellen Zustand einer pejorativeren Wahrnehmung zurückfallen.

Fußball-Literatur in Deutschland

Die Endturniere um den Weltpokal der FIFA, die nach 1945 stattgefunden haben, haben alle zusammen nie so viel künstlerischen Tatendrang auf dem Gebiet der bildenden und schönen Künste hinterlassen wie das Turnier 2006. Wie auch im Fall der Supermarktwerbung bietet eine überwältigende Vielzahl von Einrichtungen thematische Bezüge zum Ballsport Nr. 1 an: nahezu jedes Museum, jede Ausstellung, jede Lesung, jedes Theater und jeder Verlag trimmt sich jugendlich und ästhetisch hip mittels einer Hinwendung zum Geschehen auf dem grünen Rasen.

Das war nicht immer so. Literarisch betrachtet gab es zwar sofort nach 1945 einige Fußballbücher, vorwiegend einfache Jugendromane und lexikalische Zusammenstellungen - so z. B. das damals berüchtigte "Fußball-ABC" von Kurt Fuhrmann (1947), zunächst in kleinster Auflage. Sofort zur ersten WM 1954 gab es auch entsprechende Dokumentationspublikationen, die bis heute jedes Turnier zahlreich begleiten: Fotobände und chronologische Rekapitulationen, meist von Personen aus dem Bereich der Sportberichterstattung oder von alternden bzw. ehemaligen Aktiven herausgebracht.

In den 1960er Jahren erschienen zudem einige weitere Bücher zur Trainingslehre, eher im dozierend-biederen Stil, und das erste Mal dann auch Traktate über das kulturelle Phänomen "Fußball" - bezeichnenderweise fast ausschließlich mit überzeichnend glorifizierenden Titeln. Selbstverständlich darf darunter auch "König Fußball" nicht fehlen. 1969 folgte dann Helmut Sohre sogar mit "Weltmacht Fußball" und 1970 Bodo Harenberg mit dem Band "Das goldene Buch vom Fussball".

Zunächst feierten drei Spieler, die das bundesdeutsche Nachkriegsgeschehen auf dem Fußballplatz geprägt hatten, auch Erfolge auf dem literarischen Feld: Zum einen war Fritz Walter der erste Spieler, der mit einer Biografie aufwarten konnte und damit zum Gegenstand fußballerischer Reflexionen gemacht wurde. Weiter ist Uwe Seeler mit seinem Biografen Robert Becker zu nennen. Und schließlich Franz Beckenbauer, der nicht nur als erster Spieler den Werbemarkt für sich entdeckte, was ihm später die Bezeichnung 'Suppenkasper' einbrachte, sondern der auch als erster selbst schreibend in Erscheinung trat - zumindest offiziell, denn ein Ghostwriter wird nirgends genannt.

Auch der erste Fußballspielfilm "Libero" (1973) geht auf das Konto dieses Mannes. Durchschlagenden Erfolg hatte aber erst sein Buch "Einer wie ich" (1975). Dies muss einige seiner Mannschaftskameraden dann beflügelt haben, ebenfalls ihre Gedanken festzuhalten. Josef Dieter "Sepp" Maier schrieb 1980 "Ich bin doch kein Tor", Paul Breitner 1982 "Ich will kein Vorbild sein. Unser Fußball, so wie ich ihn verstehe". Breitners bemerkenswertes Buch schlägt zum ersten Mal eine andere Richtung ein, als die sonst allenthalben schlichten Stilisierungen der eigenen Person.

Breitner, schon damals als politisch sich gebender Kopf ein Sonderling, ordnet die Geschehnisse um ihn herum in einen größeren Zusammenhang ein. Er räumt auf mit dem Mythos des lustigen Sports und des ehrenhaften Kräftemessens. Fußball wird bei ihm erstmals direkt als Arbeitsplatz auf geradezu sozialdarwinistischer Wettbewerbsgrundlage demaskiert. Eben dies charakterisierte den denkbar unansehnlichen deutschen Fußball der 1980er Jahre in besonderem Maße, der das Deutschlandbild weltweit negativ prägte: Kampf, Gewalt und viel unverdientes Glück. In dieser direkten Linie steht dann 1987 auch das folgenreichste Fußballbuch der Bundesrepublik: "Anpfiff. Enthüllungen über den deutschen Fußball". Ein bissiger Ghostwriter und ein besessener Torwart, Harald Anton "Toni" Schumacher holen darin zum großen Rundumschlag aus: Doping, Lifestyle, DFB, Jugendförderung und das Heiligtum Beckenbauer werden schonungslos in die Mangel genommen. Das ist für das damalige Publikum zuviel: Schumacher wird abgekanzelt und quasi für verrückt erklärt.

Ab diesem Zeitpunkt expandiert jedoch der Fußballbuchmarkt rapide und bedient ein Fachpublikum, das sich fortan regelmäßig mit Büchern über Spieler eindecken kann, die heute kaum noch einer kennt. Zugleich hält der Fußball nun auch verstärkt Einzug an den Universitäten; einige akademische Abhandlungen über den Sport erscheinen. Einzig das Feuilleton bleibt weiterhin skeptisch: Stets ist in der Fußballliteratur ein Sachbezug vorhanden, fiktive Themen sind erst später zu finden.

Fesselnd, aber in seiner verbissenen exegetischen Art eher quälend liest sich Ulrich Steins "Halbzeit. Eine Bilanz ohne Deckung" (1994). Steins Ghostwriter vermischt Bezugnahmen auf psychoanalytische und soziologische Staddardliteratur mit Steins Lebensgeschichte und seiner Sicht auf das rohe Tagesgeschäft. Die Mixtur wirkt eher aufgesetzt bis belächelnswert - beinhaltet aber auch noch für den heutigen Leser so manchen erhellenden Gedanken. Als Beispiele für unterirdisches Niveau stehen allerdings immer noch pars pro toto Lothar Matthäus' "Mein Tagebuch" (1997) und Stefan Effenbergs "Ich habs allen gezeigt" (2003) im Regal. Jedes Vorurteil über Fußballspieler kann anhand der beiden Werke belegt werden.

Neue Kreise werden erschlossen

Insgesamt hat die Fußball-Literatur immer auch solche Leserkreise angesprochen, die ihr Interesse zuvor gerne versteckt hätten. Für den akademischen Leser entstand seit etwa Anfang der 1990er Jahre die Sparte des politisch Sachbuchs. Führende Autoren sind hier Helmut Böttiger, Dietrich Schulze-Marmeling und vor allem Norbert Seitz. Des Weiteren nahm mit der Ausweitung der Möglichkeiten der Computertechnologie die statistisch-akribische Datenveröffentlichung zu und vermengte sich mit der ins absurde steigerbaren Abrufbarkeit von Wissen in der Gefolgschaft der stupiden Quizshow-Welle.

Seit der Jahrtausendwende gibt es dann auch noch den Fußball-Roman. Dieser ist bis heute geprägt vom britischen Stil. Schließlich wurden in Großbritannien Dank eines David Beckhams schon viel früher als in Deutschland breitere Bevölkerungsschichten für den Fußball gewonnen. Allen Werken voran sind hier Nick Hornbys "Fever Pitch. Ballfieber - Die Geschichte eines Fans" (deutsch 2002) sowie Narinder Dhamis "Kick it like Beckham" (deutsch 2005) zu nennen. In Deutschland erschien 2002 Ronald Rengs "Der Traumhüter. Die unglaubliche Geschichte eines Torwarts", die Lars Leeses reales Fußballmärchen nacherzählt - und 2003 Christof Siemes "Das Wunder von Bern". Interessanterweise erschien Friedrich Christian Delius' Roman "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde" bereits 1994. Wirklich wahrgenommen wurde er aber erst im Zuge der auflaufenden Modewelle in den letzten Jahren.

Die jüngsten Publikationen sind mittelerweile kaum mehr zu überblicken. Auszumachen sind jedoch weitere Schwerpunktsetzungen auf neue Zielgruppen, zuvorderst die der Frauen - immerhin die größte erschließbare Bevölkerungsgruppe. Zahlreiche Publikationen richten sich explizit an Frauen (so etwa Papenburg/Pilawa (2006): "Raus aus der Abseitsfalle. Das Fußballbuch für Frauen", Braun/Möhn (2006): "Abseitsfallen. So überleben Frauen die Fußball-WM" und Balinska (2006): "Kick it. Das ultimative Fußballbuch für Frauen"). Die Frau wird dort entweder endlich als fähige Fußball-Rezipientin akzeptiert und daher in vielen Büchern als Leserin gleich mit-antizipiert, oder sie wird eher pädagogisierend an die Hand genommen und WM-tauglich gemacht. In jedem Fall aber wird sie neuerdings in die Verwertungsmaschinerie einbezogen.

Gleich darauf folgen die Kinder und Jugendlichen, die man noch vor einigen Jahren zu ihrem eigenen Schutze lieber auf den Tennisplatz geschickt hätte. Offensichtlich haben allerdings einige der Autoren dieser Publikationen in ihrer eigenen Jugend nie in selbstorganisierten Gruppen Fußball gespielt.

Die hier nur kursorisch nachgezeichneten Entwicklungen zeigen Folgendes:

Erstens hat die Zahl der literarischen Aktivitäten in Sachen Fußball langsam zugenommen und sich dann nun im Vorfeld der WM 2006 vervielfacht. Zweitens ist, wie immer, nicht nur das Angebot sondern auch die Nachfrage nach Fußballbüchern rapide gestiegen. Drittens haben sich die Inhalte eines Teils vom absoluten Fachwissen zur verstärkt ästhetischen Auseinandersetzung gewandelt. Viertens haben sich leider ästhetische Aspekte mit Fußballfachkompetenz noch nicht oft genug vermischt. Übertragen auf das Beispiel Malerei hieße dies, zugespitzt formuliert: Es würde eher beschrieben, was für Pullover die Leute tragen, die eine Ausstellung besuchen, und welchen Kaffee es im Museum gibt. Für ein Malerei-Experten wäre dies genauso belanglos, wie viele aktuelle Fußbalbücher sich für Aficionados des Sports immer noch darstellen.

Warum Fußball?

Die These, dass der Fußballbücherboom rasch abebben wird, impliziert, dass nicht das gestiegene Interesse der Schreibenden am Fußball Ursache dessen ist, sondern eine günstige Marktlage des Themas. Unverkennbar ist die Lage der nicht institutionalisiert Kunstschaffenden in Deutschland zwangsweise marktorientierter geworden. Sinkende Kaufkraft, geminderte Sozialleistungen, hohe Sockelarbeitslosigkeit sind kein guter Boden für frei floatende Kreativität. Hinzu kommt die bestimmende Tendenz eines schwindenden Interesses an normativen Fragen und einer eskapistischen Hinwendung zum Schönen und Harmlosen.

Kurzum, durchgesetzt hat sich im Überschwang eine allseits bejahende Ola für das größte Kulturereignis der Welt, weil damit Geld zu verdienen ist: Ein banaler Mechanismus wie in anderen kulturellen Bereichen auch. Bemerkenswert ist jedoch, dass urplötzlich ein Reiz entsteht, der vorher so nicht existent war: Ein Opern-Fan würde sich ja auch wundern, wenn die von ihm so gern besuchten Veranstaltungen plötzlich von Unmengen impulsiver Arien-Liebhaber mit Giuseppe-Verdi-Kutten heimgesucht würden. Man würde sich zwangsläufig fragen, ob dies an einer neuen Qualität der Kunst liegt, die die Massen neuerdings anzieht. Für den Fußball muss dies eindeutig verneint werden. Viele sehen ja eher einen Rückgang der fußballerischen Qualität, insbesondere in Deutschland, und von einer Steigerung derselben ist auch in der Fachliteratur kaum die Rede.

...zum Besten

Fußball hat in gleichem Maße seine Liebhaber, die ihn immanent oder hermeneutisch zu entschlüsseln vermögen, wie dies andere mit schriftlichen oder musikalischen Künsten tun können. Kunstsoziologisch lässt sich die Ätiologie der Geschmacksbildung leicht herleiten und verführt schlichte Gemüter oft dazu, vorschnell die Hauptströmungen und Schulbildungen unter den Rezipienten oder den Künstlern des Fußballbetriebs mit dem Sport selbst zu identifizieren.

Daher könnte, so bleibt zu hoffen, als ein Folgeprodukt der künstlerischen Aufmerksamkeit für die WM 2006 übrig bleiben, dass man Fußball endlich auch als eine Kunstform wahrnimmt, um sie mit hermeneutischem Instrumentarium zu analysieren. Auch für körperlich-expressive Kunstformen wie das Ballett, die Artistik oder das Dressurreiten ist dies ja längst erreicht. Die Ergebnisse derartiger Anstrengungen können allerdings selbstverständlich auch niederschmetternd sein.