Utopie einer gerechteren Welt

Wie Birgit Haas in ihrer Polemik gegen das postmoderne Theater fast an Dea Loher vorbei schreibt und ihr doch wieder begegnet

Von Peggy MädlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peggy Mädler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beim Lesen des Buches wird schnell deutlich, dass die Germanistin Birgit Haas in ihrer Auseinandersetzung mit der deutschen Dramatikerin Dea Loher ein über die engere Werkanalyse hinaus weisendes Ziel verfolgt: einen Rundumschlag gegen das, was Haas als postmodernes oder, einen Begriff von Hans Thies-Lehmann aufgreifend, als postdramatisches Theater bezeichnet. Ohne DramatikerInnen oder RegisseurInnen zu nennen, wird dem postmodernen Theater "an sich" eine umfassende Anklageschrift gewidmet, bewirkt es doch der Autorin zu Folge nicht nur die Zerstörung der Form, sondern auch die der Kunst. Es entstellt Sinn, erzeugt sprachliches Durcheinander, hektische, unmotivierte Bühnenauftritte und abstrakte, unverständliche Konzepte. Folgt man Birgit Haas, dann ist das postmoderne Theater gänzlich unpolitisch, schockiert und überfordert es lediglich das Publikum. Es ist schlussendlich eigentlich nur l'art pour l'art, was an mehreren Stellen des Buchs eindringlich wiederholt wird. Die Untersuchung von Haas zeigt deutlich, dass Akzeptanz von Vielfalt nicht nur im politischen, sondern auch im künstlerischen bzw. wissenschaftlichen Bereich geübt sein will. Der Versuch von Thies-Lehmann, aber zum Beispiel auch von Gerda Pöschmann, postdramatische Texte gleichwertig ins Feld der Dramatik einzuordnen und damit deren wissenschaftliche und literarische Wahrnehmbarkeit zu fördern, wird von Birgit Haas polemisch abgewehrt.

Die Dramatikerin Dea Loher, die 1992 mit ihrem Stück "Tätowierung" bekannt wurde, erscheint vor Haas' entworfenem Szenarium als Lichtblick in einer Theaterlandschaft, die sich von den letzten 30 Jahren erst wieder erholen muss. Ihre eher an Bertolt Brecht orientierten, auf Fabel, Handlung und Dialog setzenden Stücke holen Haas' Meinung nach endlich den Menschen, das Individuum ins Theater zurück und machen die Bühne wieder zum politischen Ort. Dem entsprechend wird die Dramatikerin in die Tradition des politischen Theaters seit den 1920er Jahren eingebettet.

Ausgehend von Erwin Piscators Theater der politischen Agitation setzt sich Birgit Haas vor allem mit Lohers Bezügen zu Brecht und dem epischen Theater auseinander. Auch Ödön von Horváths Bedeutung für Lohers Werk wird herausgestellt, nicht zuletzt trägt ihr Zyklus "Magazin des Glück" von 2001 den Namen eines Theaterprojekts von Horváth, das er kurz vor der Machtergreifung Hitlers entwarf, aber nicht mehr realisierte. Der Abriss des politischen Theaters führt weiter über Max Frisch und Friedrich Dürenmatt bis hin zum Dokumentartheater von Peter Weiss, Heinar Kipphardt und Hans Magnus Enzensberger ab Mitte der 1960er Jahre. Zu guter Letzt werden die Theatertexte von Tankred Dorst, Thomas Bernhard und Heiner Müller untersucht, was zu der Annahme führt, dass, obwohl Birgit Haas Müllers Texte ab den 70er Jahren als mit zuviel Informationsmaterial überschwemmt empfindet, sie ihn wenigstens nicht wie den Rest des postmodernen Theaters als unpolitisch einstuft. Sie stellt sogar fest, dass Dea Loher einige sprachliche Stilmittel von Müller aufgreife, versichert aber gleich mit, dass es dabei nicht um Entstellung von Sinn gehe, sondern darum, die Sätze mit zusätzlicher Bedeutung aufzuladen, um mehrere Deutungsmöglichkeiten und Assoziationen zuzulassen. Solche Erklärungen sind ärgerlich, transportieren sie doch nur reine Grabenkämpfe ohne Erkenntnisgewinn und lassen darüber hinaus nicht auf eine eingehendere Beschäftigung mit Heiner Müller schließen.

Insgesamt ist der Blick auf die Entwicklung des politischen Theaters aber durchaus gelungen, nur nutzt Birgit Haas ihn nicht wirklich dazu, die Dramatikerin nun eigenständig in diesem Feld zu beschreiben. Es werden zwar Parallelen und Ähnlichkeiten formaler oder inhaltlicher Zugänge herausgearbeitet, aber letztendlich gelingt keine Ablösung von den genannten Dramatikern bzw. Theatermachern. Statt den Abriss der politischen Theatertradition als vorangestellte Basis für eine Untersuchung von Lohers Theaterästhetik zu nutzen, wird ihre Ästhetik fast ausschließlich in einem Wechselspiel von Abgrenzung und Zuordnung beschrieben. Irgendwann entschwindet die Dramatikerin in diesen Dauervergleichen, ihre Stücke erscheinen nun fast als ein "Best-Off" des politischen Theaters. Sie nutzt Brechts Verfremdungseffekte, ist aber nicht didaktisch, sie greift inhaltlich die postmoderne Diskussion auf, zerstört aber nicht die Form, sie setzt sich mit politischen Themen und Ereignissen auseinander, ohne aber, wie das Dokumentartheater, eine scheinbare Authentizität vermitteln zu wollen. Birgit Haas' schlussendlicher Versuch, Dea Lohers Texte als eine hybride Dramatik zu beschreiben, weil sie sich keiner der bestehenden dramatischen Formen zuordnen lassen, ist daher eher fragwürdig. Haas greift hier Homi Bhabhas Begriff des Hybriden und sein Konzept der kulturellen Differenz auf, das die Auffassung, eine Nation oder Kultur sei "rein", in Frage stellt. Die Anwendung des Begriffs auf die Theaterästhetik von Loher ist jedoch schwierig. Da Bhabha mit seinem Begriff generell das Konzept der Reinheit dekonstruiert, kann man mit diesem Begriff auch schwerlich nur eine bestimmte Dramatik kennzeichnen. Eine theaterwissenschaftliche Verwendung des Begriffs, die hier durch Haas anregt wird, würde eher daraufhin verweisen, dass jede dramatische Handschrift in einem Geflecht von verschiedenen Einflüssen überhaupt erst entsteht.

Die Darstellung der außertheatralischen Bezüge zu Dea Lohers Werk gelingt Birgit Haas dagegen fast spielend. Sie zeigt die Verbindungen zu Werner Heisenbergs Unschärferelation, Gerhard Richters RAF-Zyklus, zu Walter Benjamins Bildraum oder zu Gedächtnistheorien von Maurice Halbwachs oder Jan Assmann auf, ohne dabei zu verharren. Die Bezüge werden lediglich als Ausgangspunkt genommen und kreativ in den Stückanalysen angewandt bzw. auf Lohers Theaterästhetik übersetzt. Nur wäre es nicht nötig gewesen, die einzelnen Verknüpfungen teilweise drei bis viermal im Buch fast wortwörtlich zu wiederholen, auch erscheinen Stückauszüge, Zitate und Interpretationen mehrfach, was beim Lesen eher irritiert. Aber obwohl oder gerade weil bei den Bezügen zur bildenden Kunst, Physik, Kulturwissenschaft und Philosophie der Sprung zu den Stücken erst einmal größer erscheint, kann sich Haas auch schneller wieder davon lösen und gerät gar nicht erst in die Gefahr, die Dramatikerin mit den genannten Künstlern bzw. Theoretikern zu vergleichen.

Schlussendlich entfaltet das Buch eine schöne, der Germanistin aber wahrscheinlich nicht bewusste Dramaturgie. Ihr Versuch, eindeutige Aussagen über Dea Loher zu treffen und genaue Zuordnungen oder Abgrenzungen deutlich zu machen, führt die Wissenschaftlerin immer wieder in hausgemachte Widersprüche hinein und zunächst von der Autorin weg. So wird der Dramatikerin an einigen Stellen der Stückanalysen ein Glauben an die Durchschaubarkeit der Welt und an die verändernde Kraft von Kunst unterstellt, an anderen Stellen wird dieser Glaube mit der gleichen Nachdrücklichkeit abgelehnt. Es scheint fast, als könnte man sämtliche widersprüchliche Haltungen aus den Stücken gleichermaßen herauslesen. In diesen Widersprüchen zeigt sich die eigenwillige Schönheit von Dea Lohers Dramatik, plötzlich wird der von Haas beschriebene Moment der Unschärfe unmittelbar erfahrbar. Diese Unschärfe zwingt dazu, die Schwierigkeit im Umgang mit Mehrdeutigkeit und Vielfalt auszuhalten. Und plötzlich wird auch verständlich, dass Loher, wenn sie über das Unglück, das "Nichtfunktionieren" und den emotionalen, sozialen und physischen Tod von Menschen in gesellschaftlichen Strukturen schreibt, zugleich vom Glück und von der Utopie einer gerechteren Welt erzählt.


Titelbild

Birgit Haas: Das Theater von Dea Loher: Brecht und (k)ein Ende.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2005.
285 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3895285293

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch