Über die Abgründe der Sprachen hinweg

Paul Celans Ungaretti-Übersetzungen

Von Joachim SengRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Seng

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises hat Paul Celan mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass das Gedicht im "Geheimnis der Begegnung" steht. Dies galt nicht allein für seine eigene Lyrik, sondern in besonderem Maße für die von ihm übertragene. Spätestens seit der großen Marbacher Ausstellung 'Fremde Nähe' im Jahr 1997 ist es kein Geheimnis mehr, dass Celan zugleich auch ein bedeutender Übersetzer war. In seinem Gesamtwerk nehmen die Übertragungen aus sieben Sprachen fast ebenso viel Raum ein wie seine eigenen Dichtungen. Vor allem aus dem Französischen hat der in Paris lebende Dichter viel übersetzt, nicht nur zeitgenössische Autoren wie René Char und Henri Michaux, sondern auch moderne Klassiker wie Arthur Rimbauds 'Trunkenes Schiff' und Paul Valérys 'Die junge Parze'. Von besonderer Bedeutung für Celan selbst, waren seine Übertragungen aus dem Russischen (Block, Mandelstamm, Jessenin), die zwischen 1958 und 1961 im S. Fischer Verlag erschienen. In seinen Übersetzungen stellte er das Dialogische seines Dichtens unter Beweis.

Celans Verhältnis zur italienischen Literatur war dagegen nicht besonders intensiv. In seinem Nachlass finden sich kaum Hinweise auf Italien und die italienische Literatur. Dennoch äußerte er im Herbst 1967 den Wunsch, die zwei späten Gedichtzyklen 'La terra promessa'/'Das verheißene Land' und 'Il taccuino del vecchio'/'Das Merkbuch des Alten' des italienischen Dichters Giuseppe Ungaretti für den Insel Verlag zu übersetzen. Eine ungewöhnliche Entscheidung für einen Dichter, dessen Italienischkenntnisse bei aller Sprachkompetenz alles andere als perfekt waren. Seine Lektorin Anneliese Botond bat er jedenfalls vor Beginn der Übertragung, ihm "für die Dauer der Übersetzung ein gutes italienisch-deutsches Wörterbuch und, wenn möglich, eine italienische Grammatik in deutscher Sprache" zu besorgen.

Dass es Celans einzige Übertragung aus dem Italienischen blieb, und dass er das Risiko nicht scheute, zeugt allerdings davon, wie wichtig es ihm war, gerade diesen Autor zu übersetzen, dessen Lyrik wie die seine als "hermetisch" galt. Denn riskant war die im Oktober 1967 begonnene und im April 1968 abgeschlossene Übersetzungsarbeit für Celan allemal, weil er diesmal kein übersetzerisches Neuland betrat. Ungaretti galt als der bedeutendste italienische Lyriker der Gegenwart, und viele Übersetzer hatten sich schon vor Celan darum bemüht, Gedichte des als nobelpreiswürdig gehandelten Dichters ins Deutsche zu übertragen. Otto von Taube, Victor Wittkowsk und Michael Marschall von Bieberstein gehörten ebenso dazu wie Hilde Domin und Heinz Piontek. Vor allem aber Ingeborg Bachmann war es gewesen, die mit ihrer 1961 im Suhrkamp Verlag erschienenen Gedichtauswahl Pionierarbeit geleistet und entscheidenden Einfluss auf die Rezeption Ungarettis in Deutschland genommen hatte. In ihrer Auswahl wandte sie sich vor allem dem Frühwerk Ungarettis zu, übersetzte etwa den bedeutenden Gedichtzyklus 'L'Allegria', bemühte sich aber auch mit weiteren Gedichten aus dem mittleren und späten Werk des Italieners, die Entwicklung seiner Dichtung zu dokumentieren. Aus dem Spätwerk hatte sie lediglich drei Gedichte übersetzt, die dem Leser die poetische Wende des Dichters vor Augen führen und gleichzeitig einen visionären Ausblick ermöglichen sollten.

Es dürfte daher kein Zufall sein, dass Celan für seine Ungaretti-Übertragungen gerade zwei inhaltlich zusammenhängende Gedichtbände aus dem Spätwerk wählte, die er vollständig übersetzte. Er schloss damit an Bachmanns Auswahl an und verringerte so die Gefahr, dass sich die Rezensenten mehr für den Vergleich der Übertragungen als für die Dichtung Ungarettis interessierten.

Peter Goßens hat allerdings in seinem vorbildlichen Nachwort zeigen können, dass Celans Wahl vor allem poetische Gründe hatte, und er das Original "nicht nur in eine andere Sprache, eine andere Kultur, sondern vor allem in eine andere Gegenwart und in eine andere Existenz" übertrug. Celans Begegnung mit Ungaretti findet im Text statt. Der Titel des Buches, "Agglutinati all'oggi"/ "Angefügt, nahtlos, ans Heute", ist daher trefflich gewählt, denn er beschreibt, was Celan mit seiner Übertragung zu leisten versuchte. "Denn die Sprachen, so sehr sie einander zu entsprechen scheinen, sind verschieden - geschieden durch Abgründe", schreibt Celan in einem Brief an Werner Weber: "Ja, das Gedicht, das übertragene Gedicht muß, wenn es in der zweiten Sprache noch einmal dasein will, dieses Anders- und Verschiedenseins, dieses Geschiedenseins eingedenk bleiben."

Es gehört zu den Verdiensten der von Goßens herausgegebenen Ausgabe, dass sie dem Leser den Übersetzungsprozess Celans anschaulich vor Augen führt. Überhaupt merkt man der Publikation an, dass der Herausgeber in Sachen Celans Ungaretti-Übertragung aus dem vollen Schöpfen konnte. Schon in seiner Dissertation hatte Goßens vor einigen Jahren eine Modelledition für Celans Übertragungen im Allgemeinen und die Ungaretti-Texte im Besonderen vorgelegt. Dabei hatte er auch auf Dokumente und Faksimiles zurückgegriffen. Die vorliegende Ausgabe will und kann diesen philologischen Anspruch nicht erheben, was man allerdings gelegentlich bedauert. Am schmerzlichsten dort, wo der Leser zwar eine Besonderheit der Celan'schen Übersetzungstechnik gezeigt bekommt, indem ihm die Seiten der originalsprachlichen Ungaretti-Bände - die Celan benutzte, um seine erste Übersetzung einzutragen - als Faksimile geboten werden, er die Abbildungen mit Celans Handschrift aber teilweise schlecht lesen kann. Eine Transkription der Handschrift wird hier schmerzlich vermisst, gerade weil der Herausgeber zu Recht anmerkt, dass der Erstdruck der Übersetzung bei Celan nur den abschließenden Teil eines Prozesses bildet, "dessen wichtigste Stufen in der vorliegenden Faksimile-Ausgabe versammelt sind". Vielleicht hätte man dafür auf einige Briefe der Korrespondenz zwischen Celan und seiner Lektorin Anneliese Botond verzichten und die Historie der Übersetzung mit wenigen Sätzen im Nachwort darstellen können. Denn der Briefwechsel enthält wenig Substantielles zu Celans Übertragung, weil sich die Lektorin - trotz Celans Nachfrage - um eine Stellungnahme drückt. Als Celan ihr im Februar 1968 schreibt: "Ich habe mich vor allem darum bemüht, die Härten und Spannungen zu wahren, aus denen das Original lebt. Hoffentlich habe ich Ihre Erwartungen nicht enttäuscht", bleibt er ohne eindeutige Antwort.

Celans Theorie des Übersetzens, die Goßens in seinem Nachwort klar und präzise herausarbeitet, teilten nicht viele Zeitgenossen. Über das Übertragen von Gedichten notierte sich Celan einmal: "es geschieht über die Abgründe der Sprachen hinweg: das Einende ist der Sprung. - Solcher Sprung ist Glück und Gelingen". Die Rezensenten seiner Ungaretti-Übertragung - neun Rezensionen sind dankenswerterweise in dem Band mit abgedruckt -, konnten zumeist den gelungenen "Sprung" nicht entdecken. Horst Bienek etwa sah bei Celan die Intention, "die eigene Sprachwelt dem Original überzustülpen". Auch Alice Vollenweider tadelte energisch, "daß Celan Ungaretti nicht verraten hat, um eigene Gedichte zu schreiben, sondern ihn so radikal missverstand". Moderatere Töne stimmte dagegen Karl Krolow an: "Allein das Aufeinandertreffen von Ungaretti und Celan ist ein Vorgang der erheblichen literarischen Genuß verschafft: der sprachliche Reiz ist so groß, daß es sekundär bleibt, über Grenzen der Übersetzung im einzelnen (die vorhanden sind) zu rechten."

Ungaretti jedenfalls bedankte sich im Februar 1969 sehr herzlich für die Übertragung. In Celans Handexemplar von 'Il taccuino del vecchio' schrieb er die persönliche Widmung: "Lieber Celan, dieses Buch, das noch keine sehr lange Karriere hinter sich hat, hatte das Glück Ihrer überragenden Interpretation, die eine der größten und die ehrenvollste ist, auf die ich hoffen konnte."


Titelbild

Peter Goßens (Hg.): "Angefügt, nahtlos, ans Heute"/"Agglutinati all´oggi". Paul Celan übersetzt Giuseppe Ungaretti.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
222 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3458172971

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