Keine Kathederphilosophie

Ein neues Handbuch informiert über Kant & Co.

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über den philosophischen Idealismus, zumal den deutscher Provenienz, wird gern gespottet. Und zwar nicht erst seit Nietzsche: Schon im 18. Jahrhundert bezeichnete Leibniz jene abwertend als "Idealisten", die die Existenz der realen Welt leugneten. Bis heute wird das Wort meist pejorativ gebraucht: Als Idealisten gelten meist die, die die harte Realität und ihre Anforderungen verkennen und sich für unerreichbare Ziele abmühen - Konjunktur haben dagegen längst die Pragmatiker und Realisten.

Gegen das Zerrbild, das vom deutschen Idealismus, also der seinerzeit unter vielerlei Namen wie Transzendentalphilosophie, Wissenschaftslehre oder objektiver Idealismus firmierenden, primär von Kant bis Hegel reichenden Denkbewegung, in Umlauf ist, hat der Darmstädter Philosophieprofessor Gerhard Gamm in seiner lesenswerten Reclam-Einführung treffend formuliert: "Eine Kathederphilosophie, eine Domäne von Stubenhockern und Begriffsscholastikern, wie ein Vorurteil lautet, ist der Idealismus nie gewesen. Im Gegenteil, keine neuere Philosophie war so weltläufig und demonstrierte ein vergleichbares enzyklopädisches Interesse wie der Idealismus. In den Vorlesungen von Fichte, Schelling und Hegel saßen nicht nur Studenten, sondern auch höhere Verwaltungsbeamte, Offiziere, Literaten und Politiker. Ihr Wirken ging weit über den universitären Rahmen hinaus." In der Tat: Das heutige Rechtssystem etwa sähe ohne seine idealistischen Wurzeln völlig anders aus. Wenn die Menschenrechte neuerdings stolz dem "christlichen Abendland" zugeschrieben werden, so sollte man dabei statt an die Kirche an die Aufklärung und speziell in Deutschland an Kant und Fichte denken. Und geradezu unglaublich erscheint, auf welch argumentativem Niveau sich, 200 Jahre nach Kant, die von Hirnforschern losgetretenen Debatten darüber bewegen, ob Konzepte wie Schuld, Strafe oder Ich-Bewusstsein angesichts neuer Befunde, die den Determinismus zu stützen scheinen, nicht verzichtbar seien.

Erfreulich ist es also, wenn nun ein bei Metzler erschienenes "Handbuch Deutscher Idealismus" umfassend über diese wirkungsmächtige Ideenkonstellation informiert. Man lasse sich vom groß geschriebenen Epitheton nicht täuschen: Zu den Vorzügen des von Hans Jörg Sandkühler herausgegebenen Bandes gehört, dass er diese philosophische Strömung nicht vorrangig als nationalgeschichtliches Phänomen begreift, vielmehr seine Einbettung, Verwurzelung und Rezeption in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte stets mitberücksichtigt. "Der 'deutsche' Idealismus war und ist ein zentrales Moment der Entwicklung Europas als einer polyphonen kulturellen Einheit", heißt es dazu im Vorwort des Herausgebers.

Die Beiträger des neuen Standardwerks führen in systematisch konzipierten Kapiteln in die einschlägigen Fragestellungen ein, als da wären: die Vernunft und das Absolute, System und Methode, Erkenntnis und Wissen, Natur, Moral, Recht und Staat, Geschichte, Religion und Kunst. Innerhalb der Kapitel dominiert eine historische Perspektive; mit ausführlichen Quellenauszügen werden kompetent und verständlich die jeweiligen Denkprozesse und Problembewältigungsversuche von Kant über Fichte und Schelling bis Hegel rekonstruiert und die Differenzen und Gemeinsamkeiten dieser Denker herausgearbeitet. Damals bedeutsame, bald aber von den großen Namen verdrängte Denker wie Jacobi, Maimon, Raimarus oder Reinhold werden mitberücksichtigt, jedoch nicht in der Ausführlichkeit, die bei einem "Handbuch" angebracht wäre.

Auch in anderer Hinsicht lässt das Werk zu wünschen übrig: Zwar informieren die letzten beiden Kapitel ausführlich und kenntnisreich über die intensive Auseinandersetzung der Frühromantiker mit dem Idealismus sowie über die Rezeption der idealistischen Schriften in europäischen Ländern wie England, Italien, Spanien, Frankreich und sogar Polen. Über seine wohl kaum weniger wichtige Rezeption in Nordamerika schweigt sich das Handbuch jedoch ebenso aus wie über die weitere Geschichte dieser Denkbewegung im deutschen Sprachraum. Deshalb die Bitte für eine etwaige zweite Auflage: ein weiteres Kapitel, das auch den Neukantianismus um 1900 und den zeitgleich grassierenden, fatalen Vulgäridealismus im Dienste der bürgerlichen Ideologie behandelt.


Titelbild

Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Handbuch Deutscher Idealismus.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2005.
430 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-10: 3476021181

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