Damit der Schrei der Opfer nicht verstummt

Ein Band versammelt Briefe aus der Shoah

Von Joachim SengRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Seng

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Bücher, die kann man nicht rezensieren, die müsste man zitieren, Wort für Wort. Die von Walter Zwi Bacharach, dem Direktor des Leo Baeck Instituts in Jerusalem, herausgegebene und vom Wallstein Verlag in Verbindung mit der Gedenkstätte Yad Vashem publizierte Briefsammlung "Dies sind meine letzten Worte" ist ein solches Buch. Daher soll hier die 10-jährige Jutta Wischniatzky aus Weißrußland zu Wort kommen, die - kurz bevor sie grausam ermordet wurde - schrieb: "Mein lieber Vater! Ich verabschiede mich von Dir, bevor ich sterbe. Wir möchten so gerne leben, aber was können wir tun - man lässt uns nicht. Ich habe solche Angst vor dem Tod, denn kleine Kinder werden lebend in die Grube geworfen. Ich verabschiede mich von Euch auf immer. Ich küsse Euch ganz, ganz fest".

Welch unvorstellbare Qual für das kleine Mädchen und welch wunderbare Stärke und Liebe spricht aus diesen Zeilen, die ihren Vater Mosche in den USA erreichen sollten, dessen Seelenpein beim Lesen dieser Abschiedsworte man sich kaum vorstellen kann. Mit Beklemmung liest man auch die letzten Worte von Fanja Barbakov, die, 19 Jahre alt, zuletzt in einem Ghetto bei Lemberg lebte und kurz vor ihrer Ermordung mit zitternder Hand berichtet: "Wir alle liegen in einer Grube. Ich bin absolut sicher, dass Ihr alle unseren Grabesort kennen werdet. Mutter und Vater halten kaum durch. Meine Hand zittert und es fällt mir schwer, den Brief zu beenden. Ich bin stolz, denn ich bin eine Jüdin. Ich sterbe für mein Volk. Ich habe niemandem verraten, dass ich vor meinem Tod einen Brief schreibe. Ach! ... Wie viel Lust hätte ich, zu leben und etwas Gutes im Leben zu erreichen. Doch alles ist bereits verloren... Lebet wohl. Eure Verwandte Fanja im Namen aller: Vater, Mutter, Sima, Sonja, Sussia, Rassia die Schnelle, und im Namen des Kindes Zelda'le, die noch gar nichts versteht".

Aber wer könnte das verstehen, was in diesen Zeilen und den anderen etwa 150 Abschiedsbriefen beschrieben, herausgeschrieen und zu erklären versucht wird? 'Briefe aus der Shoah' lautet der Untertitel des Bands, der Botschaften aus der Hölle enthält, "geschrieben mit Blut und dem Herzen" als "Beweis und Zeugnis [...] vor der Welt für das Blutbad, das der Mörder Hitler, möge sein Name ausgelöscht werden, und seine Verbrecherbande veranstaltet haben - jüdisches Blut Unschuldiger", wie Jitzchak Aaron in seinem "Testament" schreibt, in dem er auch das unbegreifliche Ausmaß seines Schmerzes für die Nachwelt festhält: "Ich verlor an jenem Dienstag meinen Vater Mosche HaCohen (alle kannten ihn), meine Mutter Zierl, meine verheiratete Tochter Frieda mit ihrem kleinen, fünf Monate alten Engel Schneor'l, meinen Schwager Mosche Frumin, meine junge, 19 Jahre alte Schwester Esinka, meinen alten Onkel Menachem Mendel Aaron, meine guten Freunde Ejsik Engel mit seiner Frau Chaja und ihrem Sohn Chlojne, meine Freundin Leah Aaron mit ihrer Tochter und ihrem Sohn Fejge und Arke, meinen jungen Freund Elzik Lipschitz - kurz, ich habe alle und alles verloren".

Die Lektüre des Buches, aber wie könnte es anders sein, ist quälend und schmerzhaft. Man kann diese Briefe schlecht hintereinander lesen, denn jeder Brief ist ein Abschiedsbrief, ein Schrei - Mal wütend, Mal flehend, ein anderes Mal mit ruhiger Stimme in Liebe an die Angehörigen denkend. Aber immer vernimmt man das letzte Wort eines Menschen, der dem Tod als einem "Meister aus Deutschland" ins Auge sieht. Als Leser fragt man sich manchmal, ob es wirklich statthaft ist, solche Briefe in thematischer Ordnung aneinanderzureihen. Denn es handelt sich hier ja um keine gewöhnlichen Briefe. Jeder von ihnen, der - auf welchen Wegen und Umwegen - sein Ziel, die Angehörigen, Freunde und schließlich die Gedenkstätte Yad Vashem, erreichte, verweist auf ein herzbewegendes Einzelschicksal, mit jedem Schreiber, mit jedem Ermordeten versinkt eine ganze Welt.

Das dunkle Fragment eines Lebensromans tut sich plötzlich vor einem auf, dessen brutales Ende man kennt, und von dem man daher denkt, es könne nur im Weiß eines leeren Blattes enden. Stattdessen folgt das nächste Opfer, dem unsere ganze Aufmerksamkeit gehören muss, und man ertappt sich dabei, wie man plötzlich Sätze in Briefen überspringt, weil man denkt, ähnliches habe ich schon im Brief zuvor gelesen. Das Buch verlangt vom Leser besondere Aufmerksamkeit, man muss es langsam lesen, weil Marek ein eigenes Leben gelebt und einen eigenen Tod erlitten hat, ebenso wie Blanka Levi und Minna Hübschmann. Alle Namen der Opfer möchte man nennen, weil viele ihre Abschiedsbriefe schrieben, damit ihre Namen genannt und erinnert werden und, wie es in einem Brief an eine junge Jüdin heißt, mehr hinterlassen wird als "nur ein bißchen Brandgeruch".

Die Themen, die in den Briefen angeschlagen werden, sind vielfältig. Für viele geht es darum, historisches Zeugnis abzulegen. Aus Athen schreibt ein unbekannter Jude: "Am 14. März [1943] wurden aus dem Ghetto plötzlich 3000 Menschen abgeholt, Alte, Junge, Frauen, Jungen und Mädchen, und man sperrte sie in geschlossene Viehwaggons. [...] Jetzt ist kein Jude in Saloniki mehr verblieben. Wie einsam liegt die Stadt Israel da. Die Gebetshäuser verloren, unser Friedhof zerstört, unsere Bibliotheken, Thora-Rollen vernichtet, alle Unterlagen der Gemeinde verbrannt".

Aus vielen Briefen spricht aber vor allem Verzweiflung und Fassungslosigkeit über die Grausamkeit der deutschen Mörder, die teilweise noch wenige Jahre zuvor friedliche Nachbarn waren. "Wie soll man das beschreiben", fragt Moschia aus Tarnopol. "Wir sind keine Menschen mehr, wir sind Tiere, wir haben jedes menschliche Gefühl verloren. Die Kinder brachten ihre Eltern an den Tötungsort, Väter ihre Söhne, Frauen versuchten zu fliehen und ließen dabei ihre Säuglinge zurück. Und dann wieder eine andere Ansicht. Kinder schließen sich ihren Eltern an, obwohl sie sich für einige Zeit als Arbeitstüchtige hätten retten können".

Eine, die sich hätte retten können, ist die 23jährige Chulda. Sie, die bei ihren Angehörigen bleibt, um mit ihnen gemeinsam in den Tod zu gehen, bekennt: "Wir sind alle von einer Manie ergriffen, vor dem Tod Briefe zu schreiben. Wenn jemand von uns Bekannte im Ausland hat - so schreibt er und glaubt, dass unsere Mörder eines Tages bestraft werden. Für Euch wird das unverständlich sein - dieser Brief, diese Wörter und die Bilder, die sie beschreiben, werden nicht in Euer Bewusstsein dringen. Und das wundert mich überhaupt nicht, da ja selbst ich, die ich mir dieser Dinge vollends bewusst bin, nicht in der Lage bin, eine solche Grausamkeit zu glauben". Um welche barbarischen Verbrechen es sich handelt, erfährt man etwa von Bluma Stirnberg, die ihrem Mann berichtet: "Am Morgen desselben Tages begann das erschreckende Schauspiel, wie in den Schauspielen Dantes. Nein, das stimmt nicht. Dante wäre nicht in der Lage gewesen, solch furchtbaren Visionen zu erfinden. Zwischen zwei Reihen Soldaten, mit Stöcken bewaffnet, wurden wir in den Wald geführt. Dort standen wir auf einem Gelände, umgeben von Maschinengewehren, und wurden langsam getötet. Es starben dort 1900 Menschen. Die anderen gingen nach Hause. [...] Ich habe Euch nur trockene Tatsachen berichtet. Doch meine Gefühle, die manchmal an Wahnsinn grenzen, konnte ich nicht beschreiben! Vor allem, wenn ich Ben ansehe. Mein Lieber, wenn Du wüsstest, welch schönes und wunderbares Kind er ist. Das Herz zerspringt mir bei dem Gedanken, dass ich ihn morgen zur ewigen Ruhe trage, und er lacht und schreit 'Mu...'. Gott will nicht, dass ich erlebe, ihn 'Mutter' sagen zu hören".

Bluma Stirnberg, die wenig später mit ihrem kleinen Sohn ermordet wurde, gibt dem, was unter dem Begriff 'Shoah' historisch-sachlich bezeichnet wird, ein Schicksal und ein Gesicht. Jedem Geschichtslehrer sei daher empfohlen, seinen Schülern nicht nur die Zahlen und Fakten zum 'Holocaust' vorzulegen, sondern auch den einen oder anderen Brief dieser Sammlung. Dieses Buch ist wichtig, weil es auf seine Weise dem entgegenarbeitet, was die Nazis erreichen wollten: die Vernichtung der Juden Europas und der Auslöschung ihrer Namen. Die spärlich beschriebenen Botschaften, die in Baracken versteckt, in der Erde vergraben, aus den Güterwaggons in Richtung Auschwitz geworfen oder treuen Freunden übergeben wurden, erzählen die Geschichte der Shoah aus der Sicht Einzelner. Historische Fakten erhalten hier einen persönlichen Aspekt, und die Authentizität der Briefe ist beklemmend. Bewundernswert ist dagegen die Kraft und die menschliche Größe jener, die ihre letzten Worte zu Papier bringen. Das Ausmaß des Leidens von sechs Millionen Menschen wird so an Einzelschicksalen erfahrbar. Bis zu einem bestimmten Grad erfahrbar, wie man hinzufügen muss, denn die Leiden lassen sich mit Worten kaum beschreiben. Auch die dem Tode geweihten Briefeschreiber wussten das und wollten gerade deshalb noch vor ihrem Tod die historischen Fakten für die Nachwelt aufschreiben, damit man weiß und nicht vergisst: "Ein normal denkender Mensch könnte niemals glauben, dass man solche Foltern überstehen kann und dass im zwanzigsten Jahrhundert solche Gräueltaten möglich sind". Unglaubliche Untaten, wie jene, von der die Inschriften von Esther Srul und Gina Atlas zeugen, die beide kurz bevor sie am 15. September 1942 von den Deutschen getötet wurden, an die Wand der Synagoge von Kovel in der Ukraine ihre letzten Botschaften schrieben: "Die Tore öffnen sich. Da sind die Mörder. Schwarzgekleidet. An ihren schmutzigen Händen tragen sie weiße Handschuhe. Paarweise jagen sie uns aus der Synagoge. Liebe Schwestern und Brüder, wie schwer ist es, vom schönen Leben Abschied zu nehmen. Die ihr am Leben bleibt, vergesst nie unsere unschuldige, kleine jüdische Straße. Schwestern und Brüder, rächt uns an unsern Mördern". Und Gina Atlas schrieb: "Reuwen Atlas, wisse, dass Deine Frau und Dein Sohn Imus ermordet wurden. Unser Sohn weinte bitterlich. Er wollte nicht sterben. Zieh in den Krieg und räche Deine Frau und Deinen einzigen Sohn. Man führt uns in den Tod, und wir sind unschuldig".

Viele treibt die Sorge um ihre Kinder um, andere der Gedanke an Rache, innere Konflikte werden zum Thema, der Glauben oder die Entscheidung durchzuhalten oder Selbstmord zu begehen. Mancher Brief ist auch Zeugnis des tapferen Widerstands der Juden gegen den übermächtigen Feind. Und aus manchem Schreiben spricht - trotz aller Verzweiflung - Hoffnung. Pinchas Eisner aus Budapest benennt seine Hoffnungen in einem Brief an seinen Bruder. Dass sie sich erfüllen könnten, glaubt er am 16. Oktober 1944 aber nicht mehr: "Ich sehe Pläne, Vorhaben, Hoffnungen vor mir. Ich habe Sehnsucht nach dem Unbekannten. Ich würde wissen wollen, leben, sehen, tun, lieben ... doch nun ist alles zu Ende". Fünf Tage nach diesem Brief wurde er erschossen, nachdem er gezwungen worden war, sich sein eigenes Grab zu schaufeln.

Dass man alle diese Abschiedsbriefe konzentriert und Wort für Wort liest, das ist das Mindeste, was die Schreiber von uns erwarten dürfen. Denn dass die Nachwelt oder die überlebenden Angehörigen ihre Namen kennen und den Ort ihres Todes, war den meisten ein großes Bedürfnis. Dies bezeugt auch Frieda Nisselewitsch, die bei der Auflösung des Ghettos Shavli in Litauen ihr "Testament" hinterließ. Sie, die einzige aus der Familie, die am Leben geblieben ist, beglaubigt als ihren letzten Wunsch, dass die Namen ihrer Familie und einige Fotos für eine bessere Nachwelt erhalten bleiben: "Zum Zeitpunkt des Auszugs aus dem Ghetto, der Schritt zwischen Leben und Tod, habe ich einige Fotografien meiner liebsten Menschen hinterlassen, in der Hoffnung, dass sie jemand rechtzeitig findet, der im Boden gräbt und sucht, und in der Hoffnung, dass jener Mensch sie an einen meiner Verwandten oder meiner Freunde in Amerika oder in Eretz-Israel weiterleitet, wenn noch einer von Ihnen übrig bleibt. Mein Name ist Frieda Nisselewitsch, in Weigebe geboren".

Jeder Brief dieses Buchs, so schreibt der Herausgeber in seinem wichtigen einleitenden Essay, "stellt einen symbolischen Grabstein dar". Aber mit ihren Abschiedworten werden die Gequälten auch noch einmal lebendig. Sie sprechen zu uns, und es ist sicher kein gering zu schätzender Nebeneffekt dieser bedeutsamen, bedrückenden Sammlung, dass man aus den Briefen auch lernt, welch kostbare Güter eine Demokratie und ein Rechtsstaat sind, in dem die Menschenrechte gelten. Wie zerbrechlich und bedroht eine Demokratie sein kann, wie schon morgen Menschen wegen ihrer Rasse oder Religion ausgegrenzt und entrechtet sein können, die gestern noch gleichberechtigte Staatsbürger, Kollegen und Nachbarn waren, auch das lernt man aus diesem Buch.

Die Briefe erinnern an eine Zeit, die noch nicht so weit zurückliegt, wie manche meinen, und sie sensibilisieren für das Unrecht und Leid, das auch heute noch täglich in der Welt geschieht. Es gehört zu den großen Verdiensten dieser Ausgabe, dass sie den Schrei der Opfer nicht verstummen lässt. Dem Leser aber wird manches Wort schmerzlich im Gedächtnis bleiben. Etwa jener Satz, den Else Klauber aus Wien vor ihrer Deportation an ihre Tochter Anne-Marie schrieb, die bereits in England lebte: "Ich hoffe, dass Du die deutsche Sprache vergisst, und wenn Du Kinder hast, dass auch sie niemals diese Sprache kennen werden". Mit Beschämung liest man als Deutscher diese letzte Bitte und ist doch dankbar, dass dieser Band mit Briefen aus der Shoah in deutscher Sprache, der Sprache der Opfer und der Mörder, vorliegt.


Titelbild

Walter Zwi Bacharach (Hg.): Dies sind meine letzten Worte. Briefe aus der Shoah.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
336 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3892449910

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